Aesthetica

Zu allererst: Ich war’s nicht. Das mag im angesprochenen Zusammenhang wichtig sein oder nicht, aber: Ich war’s nicht. Schon deshalb nicht, weil meine passive Natur dem vergewaltigenden Element eher subversiv-abwartend gegenübersteht. Das gilt auch, wenn, wie in diesem Fall, von Vergewaltigung eher im vorgreifenden Sinn die Rede sein muss. Was immer der Rüpel verübte oder zu verüben die Absicht hatte oder, es verüben wollend und im Ansatz bereits verübend, zu verüben versuchte, dieses … Individuum, das mich, um es einmal so so sagen, im Gesicht trägt – mit mir, dem Nasenbein, hat das erst einmal nichts, sozusagen garnix zu tun. Ich beantrage … sagen wir … gesonderte Identität. Nein, doch nicht. Ich ziehe den Antrag zurück, ich verschiebe ihn auf später. Noch – noch! – kommt meinesgleichen als Sexualstraftäter nicht in Betracht. Das mag sich ändern, wenn die Zeit fortschreitet und Nasenbeine gefragter werden. Bislang, seien wir ehrlich, kommt unsereins allenfalls gebrochen in Betracht. Ein ungebrochenes Nasenbein lässt sich praktisch einem ungebrochenen Verhältnis gleichsetzen. Wer will denn so etwas? Wer kann es sich überhaupt leisten? Ein ungebrochenes Verhältnis kommt nirgendwo in Betracht. Genauso ergeht es dem Nasenbein. Erst wenn es gebrochen wird, tritt es hervor. Heißt das Existenz? Nein. In einem Fall wie diesem, der kompliziert genug ist, um die Justiz auf den Plan zu rufen, sollte letztendlich meine Passivität den Ausschlag geben. Ich konnte nichts machen. Das ist die Wahrheit, ich mache Ihnen da nichts vor. So geht es zu, wenn man einem Rüpel zu Diensten steht. Was die schlagkräftige junge Dame angeht… Wie heißt sie übrigens? Ich selbst habe sie nur kurz ins Visier nehmen können, im Augenblick des Bruchs, um genau zu sein. Sie hat zwar mich getroffen, aber nicht mich gemeint. Genauso erging es zweifellos ihrem Belästiger, der sie zwar physisch attackierte, aber … lassen Sie mich nachdenken: psychisch verfehlte? Lag darin seine kulturelle Verfehlung? Ein gebrochenes Nasenbein ist kein Ort, an dem sich Gedanken sammeln. Ich bitte daher mein Gestammel zu entschuldigen. Ich bekenne mich schuldig. Ja, ich hätte sie geliebt. Für einen Moment hat sie mich, wenn man so will, betroffen gemacht. Das will schon etwas heißen. Natürlich liegt es am Verhalten. Er hat sie belästigt, sie hat sich gewehrt, ganz ohne Hintergedanken, ohne von mir überhaupt Notiz zu nehmen. In ihrem Universum kam ich nicht vor: welche Grausamkeit! Ich erstatte Anzeige gegen den Rüpel, der mich in dieses unwürdige Scharmützel geführt hat. Ich hatte darin nichts zu suchen und kann bezeugen, dass zwischen der beherzten jungen Dame, die mich gebrochen hat, und meiner schmerzenden Wenigkeit vor der bewussten Tat keinerlei Kontakt bestand, geschweige denn Streit. Halte mich, versuchte ich meinen Rüpel zu belehren, aus dieser Sache raus! Und? Er wollte nicht hören. So muss die geballte Faust eines aufrechten Nasenbeins zu ihm sprechen. Ja, dieser Schlag ist mein Schlag. Meine Anzeige wird es richten. Es musste einmal so kommen. Im Vertrauen: Können Sie sich vorstellen, einem Grabscher die Nasenwege offenzuhalten? Tag für Tag? Wichtiger noch: Nacht für Nacht? Was sind das, wage ich zu fragen, für Wege? Schleichwege der Unvernunft, wenn Sie mich fragen. Dafür bin ich mir auf Dauer zu gut. Bruch ist Bruch, einer zieht den anderen nach sich, ich breche hiermit… Was breche ich? Mein Schweigegelübde? Habe ich es je abgelegt? Ich hätte nichts zu sagen? Heiliger Unverstand! Ein Nasenbein sieht vieles auf sich zukommen, es ist stets im Bilde. Nur diese Tasche … es ging alles zu schnell. Ein wenig mehr Zeit und ich wäre abgetaucht.

 

 

erschienen:

Rede eines gebrochenen Nasenbeins nach der Wiener Silvesternacht (Acta Litterarum)

Notizen für den schweigenden Leser

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