Aesthetica

Ich bin Historiker. Ich weiß nicht, wie vielen Menschen es bewusst ist, was es bedeutet, heute, im Zeitalter der Verflüssigung der Daten, der Namen und der Vorgänge, Historiker zu sein. Man muss sehr einverstanden sein mit dem Lauf der Welt, manche sagen, mit dem Gang der Dinge, obwohl darin ein Problem liegt (Dinge gehen bekanntlich nicht, es sei denn, es handelt sich um Roboter), um mit dem Auftauchen und Verschwinden von Menschen, Ereignissen und ganzen Epochen Schritt halten zu können.

Sie erinnern sich an das berühmte Jahr 1000 nach Christus, in dem sich die Menschen Europas angeblich in Höhlen versteckten, es sei denn, sie zogen es vor, den HERRN und das Tausendjährige Friedensreich auf den Gipfeln der Berge zu erwarten – unter frommen Gesängen, versteht sich? Man hat lange gesucht und keine zeitgenössischen Zeugnisse für diesen unerhörten Vorgang gefunden. Doch meine Zunft ist zäh. Sie erbat sich mehr Forschungsmittel vom Staat, um den für die Entwicklung des modernen Staates so wichtigen Sachverhalt definitiv aufklären zu können. Die Gelder wurden gewährt und lange Zeit kam, wie zu erwarten, nichts dabei heraus, bis sich ein dynamischer Geschäftsmann der Sache annahm und mit dem lächerlichen Einsatz von ein paar Millionen Dollar eine ganze Flut historischer Zeugnisse heraufbeschwor, die nur einen Schluss zuließen: den gewünschten.

Falls Sie Stimmenanalytiker sind, werden Sie mein Zögern bemerkt und auch bereits den Grund dafür erraten haben: ein Historiker, der behauptet, die von ihm untersuchten Zeugnisse ließen nur einen einzigen Schluss zu, ist in der Regel gekauft. Eigentlich benützt er die Wendung, um denen, die es angeht, seine Käuflichkeit zu signalisieren und gleichzeitig, sofern er redlich ist, das eigene Fach zu warnen: »Finger weg!« So verwandelten sich die großartigen Dokumente, die unwiderleglich die Schrecken des Jahres 1000 bewiesen, umgehend in die Geburtsurkunden einer Theorie, der zufolge die letzten drei Jahrhunderte des ersten Jahrtausends, auch das finstere Mittelalter genannt, überhaupt nicht existierten, vielmehr auf Geheiß eines ruhm- und machtgierigen Monarchen von fleißigen Scribenten in ein paar ausgesuchten Klöstern… – gefälscht? erfunden? – sagen wir: hergestellt wurden.

»Und das soll gehen?«, werden Sie fragen. »Wie will man das beweisen?« Nun, es gibt Wege und Möglichkeiten. Die Phantasie der Menschen, besonders meiner Zunft, ist beschränkt. Deshalb ähneln die meisten ihrer Erfindungen dem, was man nicht erfinden muss, weil es bereits existiert. Praktisch ist die Realität die Blaupause aller Erfindungen. Um das zu erkennen, muss man sich nur die Mühe machen, unsere Beschreibungen der Vergangenheit zu vergessen und sich vorzustellen, wie die Zeitgenossen Menschen und Taten der Vorzeit zu beschreiben pflegten. Sofort öffnet sich ein Füllhorn der Ähnlichkeiten, will sagen Verdoppelungen, und Eingeweihte wissen Bescheid.

Das war ein langer Vorspann. Er war aber nötig, um das, was jetzt kommt, ins rechte Licht zu rücken. Kennern des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts ist der Name Wodarg zwar kein Begriff, aber doch ein vertrauter Schemen. Er repräsentiert eine winzige Lücke im Gewebe, ein Mottenloch der Geschichte, und wir wissen nicht, jedenfalls nicht genau, warum. Wir haben Graffiti an Hauswänden gefunden (obwohl die meisten Gebäude aus der Epoche abgerissen und die Aufnahmen gelöscht wurden), darunter den Spruch WODARG EXISTIERT, aber wir wissen nicht, was er bedeutet. Ist ›Wodarg‹ ein Mensch? Unter Historikern gilt die Regel: Wo ein Name, da ein Mensch. Aber seit einiger Zeit sind wir uns da nicht mehr so sicher.

Was wissen wir? ›Wodarg‹ muss für etwas stehen, dessen Existenz früh angezweifelt, wenn nicht rundheraus geleugnet wurde. Von wem? Von Ketzern? Von Anhängern der Neuen Religiosität, die sich in jenen Jahren rasend ausbreitete und um ein Haar zweihundert Jahre Kulturgeschichte verschluckt hätte? Mag sein, wir wissen es nicht. Mag sein, die Obrigkeit hat seinerzeit die Löschung des Namens Wodarg verfügt: warum? Wir wissen es nicht. Wer war Wodarg (vorausgesetzt, es handelt sich um einen Menschen, der wirklich existierte)? Ein Abtrünniger? Ein Renegat? Ein Prophet? Ein Aufklärer? Ein gefallener Popstar? Ein missliebiger Politiker? Wir wissen es nicht und wie es aussieht, werden wir es niemals wissen. Mag sein, WODARG ist nichts weiter als ein Geheimcode, das Erkennungszeichen eines Widerstandes, dessen Spur sich zusammen mit der seines – vielleicht übermächtigen – Gegners in der Geschichte verloren hat.

So jedenfalls stand es bis vor wenigen Jahren. Inzwischen sind Zeugnisse aufgetaucht, die geeignet sind, die Angelegenheit in ein ganz neues Licht zu rücken. Dank jener Funde wissen wir heute, dass sich eine Reihe von Sekten, entstanden in besagtem Zeitraum, auf ›Wodarg‹ berufen hat. Soweit die vorhandenen Quellen dergleichen hergeben, handelt es sich hauptsächlich um drei Gruppierungen, für die sich in der Forschung die Namen Wodargisten, Wodargiker und Wodargianer eingebürgert haben. Ich stelle sie kurz vor, um dann zum Kern meiner Überlegungen vorzustoßen.

Als Wodargisten bezeichnen wir eine Reihe von im übrigen unbekannten Autoren, die man zu anderer Zeit als ›Leugner‹ bezeichnet hätte. Nach dem ausgiebigen Gebrauch – und Missbrauch – der vergangenen Jahrzehnte ist diese Vokabel eigentlich unter geistig wachen Menschen tabu. Doch benützen wir sie weiterhin – mit aller ethisch gebotenen Vorsicht –, wenn der historische Kontext es verlangt. Tatsächlich scheinen die Wodargisten die Große Seuche geleugnet zu haben, die damals binnen weniger Monaten einen Großteil der bekannten Menschheit dahinstreckte. Wir wissen von dieser Seuche aus einer Vielzahl erhaltener Publikationen, darunter so über jeden Zweifel erhabene wissenschaftliche Organe wie Bild, taz, FAZ – um bloß die gebräuchlichsten aufzuführen. Doch selbst Boulevardblätter wie die im angelsächsischen Raum seinerzeit viel gelesene New York Times lassen noch heute etwas von der Wucht ahnen, mit der das Menschheitsereignis sich medial den Weg in die Köpfe der Menschen bahnte. Da muss einer schon die eisernen Nerven eines Savonarola besessen haben, um inmitten einer solchen Katastrophensituation sich hinzustellen und sehenden Auges zu behaupten, in Wahrheit handle es sich nur um eine saisonale Grippewelle und die üblichen Machenschaften von ein paar Pharmakonzernen mit dem Zweck, den Staaten in großem Stil Impfmittel und Medikamente zu verkaufen.

›Wodarg‹ dürfte also – sollte es ihn gegeben haben – von den Autoritäten gebannt worden sein, um diesem – offenkundig gefährlichen – Unsinn Einhalt zu gebieten. Wir wissen nicht, ob bei gleicher Gelegenheit auch sein Besitz konfisziert wurde. Es gibt aber, ziehen wir die zweite Gruppe der Wodargiker hinzu, eine Reihe von Indizien, die uns vermuten lassen, dass in den leider vollständig verschollenen sogenannten digitalen Medien damals ein Kampf ausgetragen wurde, in dem die Wahrheitsfrage eine eher bescheidene Nebenrolle spielte. Jedenfalls scheinen die Leute, die wir heute ›Wodargiker‹ nennen, in der Öffentlichkeit stark angefeindet worden sein, offenbar weil sie der allgegenwärtigen und nur zu verständlichen Angst mit den Mitteln des Wortes entgegentraten, jeder werde, mitsamt seinen Liebsten, das nächste Opfer der Seuche sein und eines qualvollen Todes sterben.

Auch die Wodargiker scheinen nicht bestritten zu haben, dass es solche Tode, und zwar zu Tausenden, gab. Genau wissen wir das nicht. Wie es aussieht, müssten wir rechtens zwischen radikalen und gemäßigten Wodargikern unterscheiden, doch wir haben noch nicht gelernt, die entsprechenden Einstellungen aus den vorhandenen Texten herauszulesen. Im besten Fall kommen uns irgendwann neue Funde zur Hilfe. Heute wissen wir, und zwar dank der Wodargianer, dass WODARG, möglicherweise erst Jahrzehnte nach den hier angedeuteten Ereignissen, zum Code-Namen einer Szene aufstieg, in der die Seuche, fern aller lebenspraktischen Massen-Bedrohung, als Designerdroge gehandelt wurde. Uns Historiker begeistern solche auch andernorts zu registrierende Inversionsphänomene. Wir lesen sie etwa so, wie Geologen Risse in bestimmten Gesteinslagen als Ergebnisse von nicht direkt messbaren Spannungen in der Erdkruste deuten. Ein Kult, denn um einen solchen handelt es sich, kommt niemals von ungefähr. Da die Menschheit, ausweislich der Statistiken, die Seuche weitgehend unbeschadet überlebte, sind wir gehalten, das zugrunde liegende traumatische Ereignis in anderen Zusammenhängen zu suchen.

Sie werden verstehen, dass ich an dieser Stelle abbreche – nicht ohne vorher darauf hinzuweisen, dass ökonomische Traumata, anders als von der Mehrheit vermutet, das Zeug dazu haben, Jahrhunderte mit ihren Botschaften zu infizieren. Vieles Überlieferte, das eine ältere Mediävistik – die Lehre von den vergangenen Vergangenheiten – als Ausdruck religiöser Überzeugungen deutete, begreifen wir heute als Mechanismen der kollektiven Bewältigung überstandener Wirtschaftskatastrophen. Die tiefsten Einbrüche der Menschheitsgeschichte finden sich dort, wo Handel und Wandel, wie es so schön heißt, zum Erliegen kommen und die elementaren Bande zerreißen, mit deren Hilfe sich Mensch zu Mensch gesellt.

Mein Institutsnachbar X, der viel in dem Bereich forscht und als ausgewiesener Katastrophenhistoriker gilt, macht uns seit einigen Wochen zu schaffen. Er wurde von der Polizei in flagranti aufgegriffen, als er den Schriftzug WODARGISTA FASCISTA in schwarzen Lettern an die Front der hiesigen Virologie sprühte. Eine Kommission ist eingesetzt, die Kollegen von der Klinischen Psychiatrie bereiten einen Schriftsatz vor, wir werden uns wohl oder übel eine Weile von ihm trennen müssen. Niemand will so etwas, es geschieht einfach und wir, die einfachen Historiker, haben das Nachsehen.

 

erschienen als:

Wodargisten, Wodargiker, Wodargianer (Acta litterarum)

Notizen für den schweigenden Leser

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