1.

Gemessen an den sozialen und ökonomischen Maßstä­ben planetarischer Normalität – und woran dürfte man messen? – ist die deutsche Vereinigung nach vier Jah­ren weit davon entfernt, ihr politisches Ziel zu verfeh­len. Dies gilt ungeachtet eines sich allerorts hinein­ mischenden Wiedergängertums, das mit einem ge­wissen schmerzhaften Recht daran erinnert, dass das, was sich abspielt, eine Wiedervereinigung ist, der überraschend ein Glied abhanden gekommen ist – ein Bindeglied zwar nicht dem lexikalischen, wohl aber dem psychologischen Sinn nach. Das ausgesperrte ›wieder‹ ist das – mit gutem Grund – ein weiteres Mal Ausgesperrte. Es rüttelt an den Sicherheitszäunen und pinkelt in die Vorgärten der politisch­moralischen Reputation, ohne viel mehr zu bewirken als die Identi­tätsfestigung des ›guten‹ Bürgers, der keineswegs immer der anständige, wohl aber – so wollen wir hoffen – der auf Anstand haltende Bürger ist. Nicht, weil es ihm im Blut läge – darauf allein wäre wenig Verlass. Aber in einem stabil organisierten Gemein­wesen wirken kausale Mechanismen, in denen sich Lebensgeschichten auf unbequeme Weise verfangen können. Die muffige Anerkennung dieser elementaren ›Tatsache‹ prägt für jeden, der Ohren hat zu hören, den unverwechselbaren Klang des Wortes Rechtsstaat, der seit ›der Einheit‹ im Volk gang und gäbe ist. Der berühmt gewordene Beifall, den die Brandstifter von Lichtenhagen seitens der ›seriösen‹ Nachbarn erhiel­ten, kam nicht ohne Grund von einer desorientierten Bevölkerung, welche die ersten Schritte auf dem Weg der Anerkennung noch vor sich hatte. Der Wettlauf der Medien war daher leicht zu begreifen. Schließlich galt es, den seltenen Augenblick nicht zu verpassen, in dem die Bestie eine ihr unverhofft zugefallene Freiheit schnuppert und diese sich in eine alsbald zerstiebende Illusion verwandelt.

 

2.

Man konnte voraussehen, dass eine stille Unredlichkeit, die sich zu Beginn des ›Einigungsprozesses‹ eine Zeitlang ins Spiel brachte, dazu verurteilt sein würde, im Gang der Dinge der Lächerlichkeit und dem Ver­gessen anheimzufallen. Das Verlangen einer kleinen Zahl östlicher Schreiber, von westlichen Wochenblät­tern unter der Rubrik ›Sanftmut des Zorns‹ einer breiteren Öffentlichkeit vorgelegt, die Einheit müsse die Integrität der vorher getrennten Glieder bewahren, entsprang einem intellektuellen Eskapismus, der das Scheitern der politischen Einheit aus dem Scheitern der Getrenntheiten herauslas wie vorzeiten die Unbeirrbarkeit des Sozialismus aus dem Kaffeesatz der späten Honecker­Ära. Doch unverkennbar nahm es eine sozialpsychologische Funktion wahr. Es steigerte das angesichts dessen, was geschah, erstaunliche Trostbedürfnis des Doppelvolkes – ein Bedürfnis, das nicht durch Fakten gestillt werden konnte, weil es sich in der Klage um einen Verlust erneuerte, der unaus­sprechlich war und sein musste, wenn anders die Klage fortdauern sollte.

Die erste Unredlichkeit zog eine zweite nach sich. Sie unterstellte, das, was jetzt im Osten zugrunde ging, sei gerade das gewesen, um dessen willen die fried­liche Revolution sich dort entfaltet habe. Zwar fand sich unter den Nörglern niemand, der in allem Ernst befriedigende Lösungen des einen oder anderen sozia­len Problems im kapitalistischen Orkus verschwinden sah, Vorzeigestücke also der wahrhaft befriedeten Gesellschaft: So weit mochte man die Identifikation denn doch nicht treiben. Stattdessen erwies sich die Behauptung des Gegenteils als fruchtbar: Im Mangel lag das Rezept. Das brüchige Erbe der DDR, es sollte gerade durch seine Inkontinenz durchlässig geblieben sein für eine Zukunft, in der die richtige Intention nicht länger für ihre falschen oder das Absurde streifenden Realisate hätte haftbar gemacht werden dürfen. Zahllose ›Errungenschaften‹ des realsozia­listischen Alltags erstrahlten aus dieser Sicht in einem Glanz, der sich nicht ihrer eher dürftigen Alltags­beschaffenheit, sondern dem dünnen Firnis der Utopie verdankte.

 

3.

Das war so triftig wie falsch. Triftig, weil diese Rede einer brennenden Emotion Ausdruck gab, falsch, weil erst der Augenblick des Zerfalls die Behaglichkeit eines in Strudeln versinkenden Alltags hervortreten ließ. Die Abwesenheit der ordnenden Hand hinter dem einst festgefügten Alltag ließ die Fragmente einer repressiven Ordnung als Elemente einer Ordnung in Freiheit erscheinen, die als möglich und unmöglich zugleich in den Köpfen spukte: Die Anarchie beerbt die Diktatur.

Vielmehr, sie hätte sie beerbt (so der halbgar gedachte Gedanke), wären nicht neue Machthaber auf den Plan getreten, Repräsentanten einer fremden, von einer gewissen Klientel – »Wir sind das Volk« – ins Land gerufenen Besatzungsmacht. Die Rede vom Utopieverlust diagnostizierte das Versagen der über das falsche Vergangene hereingebrochenen neuartigen Wirklichkeit angesichts der unverhofft wiederent­deckten Ideale der untergehenden Funktionärsklasse des Arbeiter-­ und­ Bauernstaates. Es war dieselbe, die in ihren tätigen Glanzzeiten das Geschäft der Des­illusionierung nicht der Bevölkerung (die sich wohl nie sonderlichen Illusionen hingab), sondern der ihr gleichwohl mehr oder weniger treu ergebenen Schicht von Kulturschaffenden betrieben hatte – mit dem zwiespältigen Erfolg, den die Revolution schließlich an den Tag brachte.

 

4.

Wer Utopie sagt, lügt: Der Eindruck, zwingend für jeden, der im Zeichen der Wende die Grenzlinie von West nach Ost überquerte, ohne durch frühere Ge-­ und Verwöhnungen korrumpiert worden zu sein, markiert die Grenzscheide zwischen den zwei Bevölkerungen, die sich nach der Wende auf dem Terrain des ver­schlissenen Realsozialismus begegneten. Zutage lag die Lüge bei denen, die der Schnittmenge aus beiden zugehörten, den Vertretern der sich aus den Cliquen der alten Gesellschaft rekrutierenden Schieberge­sellschaft. Ihr Interesse an politischer Reflexion er­ schöpfte sich darin, das eigene Schäfchen so rasch wie möglich ins trockene zu bringen. Für sie funktionierte die Rede von der unverzichtbaren Utopie wie eine spanische Wand, mittels derer sie ihre Geschäfte gegen die Öffentlichkeit abzuschirmen gedachten. Sie redeten kaum, und wenn, dann in Andeutungen, die das aussparten, worüber zu reden gewesen wäre. Sie ließen reden; ihre angebliche Enttäuschung über den Gang der Revolution, deren Anfänge sie selbstver­ständlich mitgetragen haben wollten, trugen sie als Auszeichnung am modisch-­soignierten Revers.

Anders diejenigen, die redeten, obwohl sie es besser hätten wissen müssen: Ihre Verachtung für das Volk, das spontan begriff, als es galt, sich zwischen dem besseren und dem denkbar besten Leben zu entscheiden, und mit seiner Entscheidung keinen Augenblick zögerte, reichte tief und war keineswegs gespielt. Diese durch die Ereignisse von der Verantwortung für das Ganze freigestellte leisure class der Übergangsgesellschaft verteidigte mit vorwurfsvollen Hindeutungen auf eine geraubte Zukunft den eigenen Alltag – im nachhinein noch von Privilegien zu reden wäre vermutlich obszön –, der ihr im Zuge der einen oder anderen Abwicklung abhanden zu kommen drohte. Damit aber fand sie – wenngleich seltsam verworrene – Worte für etwas, das nicht nur sie, sondern auch die verachtete Gegenpartei betraf: den Verlust an Stabilität, mit dem der einmal gezogene Wechsel auf die andere Zukunft bezahlt wurde und wird.

 

5.

Der Realitätssinn des einzelnen, ein Konglomerat unterschiedlichster Erwartungen an den nächsten und nächstfolgenden Tag, verlangt eine gewisse Quote an geräuschloser Erwartungserfüllung. Sie darf nicht zu niedrig und nicht zu hoch sein, andernfalls wird sie zu einer Quelle der Irritation. Ein Zustand des Subjekts, in dem alte durch neue Erwartungen schroff überlagert und beide gleichermaßen über einen langen Zeitraum enttäuscht werden, ist einer der abhandengekommenen Realität. In ihm wiegt selbst die angenehme Enttäu­schung nicht den peinigenden Verlust an greifbarer Wirklichkeit auf, sondern vermehrt die Defizite. Alles ist darin möglich und nichts wahrscheinlich. Der einzelne sieht sich in ein anderes Universum mit fremden Gesetzen geschleudert. Die Dinge sind in Bewegung, aber nichts geschieht wirklich. »So haben wir uns das nicht vorgestellt«: Die ostinate Klage der ›Betroffenen‹ meint keineswegs etwas Bestimmtes, sondern den Zustand der Unbestimmtheit. In ihm wächst die Neigung, sich als Objekt finsterer Machen­ schaften zu wähnen. Etwas geht vor (so die Niemands­rede). Offensichtlich soll ich von ihm nichts wissen, da keine Information, die man mir zuspielt, mir hilft, mich dem Sog zu entziehen, in dem das Vertraute nach und nach verschwindet.

In solchen Zeiten haben die sogenannten ›realen Nöte‹ Konjunktur. Dies keineswegs deshalb, weil die Not stets so real wäre, wie es die Erbitterung vermuten ließe, mit der sie in die Öffentlichkeit getragen wird. Die Crux besteht darin, dass jede augenblickliche Schwierigkeit sich mit den metaphysischen Schrecken der Unbestimmtheit auflädt. Vielleicht war dies die letzte Geistesverfassung, in der die ehedem proletari­schen Massen auf dem Weg in die plurale Gesellschaft miteinander im Gleichtakt kommunizierten. Vielleicht sogar die erste: So hätte die einst konsequent die Realität des sozialistischen Gemeinwesens verfehlende Phrase im nachhinein ihren Sinn gefunden.

In dieser Verfassung also lagen die Ursachen bereit, die dafür sorgten, dass die Rede vom Utopieverlust, und so, vielleicht ein letztes Mal, die über Nacht gedächtnislos gewordene Elite von gestern das Ohr des Volkes fanden. Dabei durfte diese den Realitätsverlust am wenigsten zugeben, da das misstrauische Volk – ob zu Recht oder Unrecht, sei dahingestellt – ihr durchaus zutraute, mit den neuen Gegebenheiten besser zurecht­ zukommen als die da unten.

 

6.

Es war ein Abschied, in dem manches durcheinander­ ging. Zu Zeiten des Realsozialismus galt die Suche der Intellektuellen Ost, wenn sie nicht gerade in Aufträgen unterwegs waren, einem Staat, der geneigt war, auf sie zu hören. Dass und wie er es tat, sollte ihnen erst im nachhinein peinlich werden. Schließlich war ihre Stimme Volkes Stimme – das Volk hätte ihnen schon aufs Maul schauen müssen, um zu erfahren, was in ihm vorging. Das Wunder geschah, als sich das Volk der vertrauten Zielvorgaben entledigte. Für einen Augenblick schienen beide Stimmen zu einer zu ver­ schmelzen. Aus einer zur Realität umgelogenen Utopie entwickelte sich unverhofft ein Stück Wirklichkeit. Zwar zeigte sich das proklamierte Ende der Unmün­digkeit in der Schlussphase der DDR zunächst als Kon­vergenzpunkt der einander rasch widersprechenden revolutionären Interessen von Volk und Bürgerrechts­bewegung. Zu der aber zählte sich der schreibende Tross kraft Naturrechts von einem bestimmten Zeit­punkt an souverän hinzu. Das war gut, das war nützlich für beide Seiten. Und als nach dem Ende der DDR der gewohnte Griff nach der leitenden Hand ins Leere ging, begann das zusehends irritierte Volk für eine kleine Weile in die Parolen seiner ehemaligen Vordenker einzustimmen.

Der Einklang war und blieb abstrakt. Jener ›Utopieverlust‹ der Massen entsprang der ganz anders erträumten Einkehr des West-­Alltags. Was sich ein­stellte, war ein Nichtalltag, in dem die eigene Erfah­rung ertrank, ohne in ihm aufzugehen. Der Utopie­verlust der wenigen hingegen spiegelte ein gelebtes Abstraktum: ein Spiel zweifellos, aber ein bitter­ ernstes. Das intellektuelle Ego, bisher dem allzu eng angelegten sozialistischen Experiment in – objektiv? subjektiv? – unbequemer Loyalität verpflichtet, probte vor neuem Publikum. Das Spiel hieß Einspruch; Be­gründungen ließen sich finden. Ein Spiel, das zu DDR­ Zeiten genügt hatte, um die verfolgende Staatsmacht auf den Plan zu rufen und über der Frage in Verwirrung zu stürzen, worin eigentlich das Delikt bestand. Nun lag die Medienbahn offen; es war die Zeit, sich zu verkaufen. Mancher konnte es besser.

Intellektuelle sind Reservatbewohner. Die einzige durch die gesellschaftliche Disziplin der DDR nicht hermetisch verschlossene Gesinnungsreservation war die soziale Utopie, das Nochnichtganz der real existie­renden sozialistischen Gemeinschaft. In ihm war man daheim. Dass es sich binnen kurzem in Rauch aufzu­lösen begann, signalisierte einen Verlust an Substanz, dem nur die Einsicht in eine Substanzlosigkeit von Anfang an das Bedrohliche hätte nehmen können. Doch derlei Lernprozesse dauern länger. Überdies hatte man Kontakte in den Westen, wo schon länger alle möglichen Durchhalteparolen in den Zweideutig­keiten des utopischen Denkens gehärtet worden waren. Solche Freunde enttäuscht man ungern.

 

7.

Dass die kulturelle Elite der letzten Honecker-­Jahre die Mauer ebenso spielerisch-­folgenlos überwinden durfte wie die Rentner, dies hat, wie weniges sonst, das Innenleben des so verwöhnten Subjekts infiziert. Die über Gebühr praktisch gewordene Denkfigur der ›Grenzüberschreitung‹, mittels derer das Subjekt sich zum Ganzen öffnet, konnte zu Kurierzwecken zwi­schen Ost und West abgerichtet und aufgebraucht werden und jene Kultur der Begegnungen hervorbrin­gen, in der die Kulturnation sich bewegte wie die Wetterfahne im Fallwind. Die Kulturnation blieb das uneigentliche oder gemütliche Utopia der ostdeutschen Intelligenz. Sie gab ihr den verbrieften Rechtsgrund, in den Ausschüssen und Unterausschüssen des inter­nationalen Kulturkritizismus dabeizusitzen, für den alle Katzen grau sind. Die Grenzüberschreitung der Massen hat dieses Utopia zerstieben lassen. Die prompte Konfusion von Alltagswelt und Besuchswelt ließ die allzu lange gestundeten Rechnungen mit einem Schlag fällig werden. Sie verhieß den im voraus Verständigten eine heiße Konkurrenz.

 

8.

Sentenz eines alten Mannes, aufgeschnappt in einem Leipziger Café nach der Wende: »Wir müssen nicht mehr in den Westen fahren, der Westen ist jetzt hier. Der Kaffee schmeckt und die Mädchen sehen hübsch aus.« Was dieser unverhüllt preisgab, grundierte die Rede der anderen. Immer daran denken, nie davon sprechen. Wer sah, wie sich einige Monate lang die Kulturmacher West bei den Kulturschaffenden Ost die Klinke in die Hand drückten, der verstand sich rasch darauf, auf den Gesichtern der letzteren den Ausdruck des Rentner­-Entzückens zu buchstabieren. Und zwar ungeachtet des Grollens, das sich ihren gepressten Seelen, durchaus funktional übrigens, entrang – schließlich bildete es das Behagen ihrer alt­neuen Vermarkter, welche den Hintergrundcharme des ›DDR­-typischen Verfalls‹ längst unter den Aktiva ihrer Einheitsbilanz eingestellt hatten. Endlich suchte man sie heim. Das hob die eigene Bedeutung ballon­gleich ins Ungeheure… im gleichen Augenblick, in dem sie sich ins Ungefähre verflüchtigte und haltlos davontrieb. Eine Ahnung, etwas könne falsch sein an der Präsentierteller-­Existenz, blieb dem Bewusstsein der eigenen Wichtigkeit beigemischt. Sie erzeugte jene subjektive Aura der Verlassenheit, in welcher der unbefriedigte Wunsch nach mehr Betreuung sich regte und zur Reife entfaltete. In ihr wurde jede von der anderen Seite erfahrene Zuwendung irgendwann als heuchlerische Attacke empfunden. Rasch war die soli­daritätsfordernde Schmäh-Attitüde zur Stelle. Ihren sinnfälligen Ausdruck fand sie in dem gewiss unaus­räumbaren Vorwurf, die andere Seite könne schließ­lich, wann immer es ihr passe, »wieder nach Hause: So hätte ich’s auch gern.« Wo ich zu Hause wäre (im geregelten, ›westlichen‹ Dasein), dort bin ich’s nicht; wo ich zu Hause war (ohne jemals Herr im Haus gewesen zu sein), dort bin ich’s nicht mehr.

 

9.

Auch das war eine Lesart der Sehnsucht nach der ver­lorenen Utopie. Sie galt der Trauer um das verlorene Paradies des umstandslosen Beisichseins, zu dem die repressive Normalität den einzelnen erzogen hatte, ein Zustand, den Vokabeln wie ›Rückzug‹ und ›Nische‹ nur unzureichend beschreiben, da sie sich einer gesell­schaftlichen Topik bedienen, die die Möglichkeit von Bewegung voraussetzt, einen Ausweg nach innen zumindest, eine Emigration. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Zustand progressiver Indifferenz, der von schlichter gestrickten Gemütern im nachhinein mühelos als einer des Wartens, des Ab­ oder Zuwar­tens gedeutet werden konnte. »Darauf haben wir vierzig Jahre lang gewartet.« Ein solcher Satz aus dem Mund eines Dreißigjährigen nach der Grenzöffnung mochte im ersten Moment verblüffen, doch er brachte die Sache auf den Punkt. Leider versäumte der junge Mann hinzuzufügen: Nur dass wir gestern noch nichts davon gewusst haben.

Das Reiseprivileg der wenigen, das auch eine Selbstverpflichtung dem gewährenden Staat gegenüber enthielt, hatte nicht etwa den grauen Heiligenschein der impassionierten Selbstversunkenheit annulliert. Es hatte ihn – im Westen – zum Markenzeichen einer Kultur gemacht, deren reisende Angehörige gegenein­ander wie gegen die anderen in anstrengungsloser Reserve verharrten. Funktionslos geworden, wurde dieselbe indifferente Gemütsverfassung nunmehr als Außersichsein erfahren, als ein Zustand des Ausge­sperrtseins von den Realitätsräumen, in denen das Selbst sich zu realisieren vermochte, als erlebter Autismus: Wir sind die anderen. DDR­-Gestein. Es wird nicht leicht sein, uns zu brechen.

 

10.

Die einen und die anderen: Dem Gast aus dem Westen kam es bisweilen vor, als gebe es für den Neubürger Ost keinen Blick auf seine Verhältnisse, in den nicht der Westmensch als Strichmännchen eingelassen wäre wie das Fadenkreuz ins Zielfernrohr eines Attentäters. Stets schien das anvisierte Ziel schon bevölkert von jenen Wesen, denen ›Selbstsicherheit‹ zu attestieren zum guten, zum resignierten Ton gehörte, weil es ein Ziel benannte – als Wunschziel, nicht als Objekt einer besonderen Anstrengung. Das war verquer, aber es leuchtete ein. Schließlich bezeichnet Selbstsicherheit die feste Relation des einzelnen zur ihn umgebenden Wirklichkeit, die mit der Wirklichkeit entglitt. In der Schemenwelt wurde sie zur mystischen Aura der ande­ren, die sich im eigenen Land bewegten, als sei es das ihre – nicht eigentlich arrogant (wenn, dann als Typ, den man kennt – ›Wir sind ein Volk‹), aber unangreif­bar. Das machte den Kinderwunsch unabweislich, das Objekt der Begierde zu zerlegen, um nachzusehen, wie es drin aussieht. Man unterwarf den Westler experi­mentellen Bedingungen, unter denen er sich beweisen musste. Er erwies sich, notgedrungen, als Westler, als jemand, der keine Ahnung hatte, wie es wirklich war.

Reflex auch das. Die da in starken, schnellen Wagen das Land durchpflügten, ausgerüstet mit Funktelefonen und mit märchenhaften Entschädigun­gen gegen seine Unwirtlichkeit gepolstert, zeigten sich durch das, was sie vorfanden, wenig affiziert. Allen­falls waren sie es durch Projekte oder die schiere Aussicht auf sie. Die Erwartungen und Pläne der ande­ren Seite bedeuteten dabei nicht mehr als Rohmaterial – im Regelfall den Sand, der zwischen eigenen und fremden Fingern verrinnt, während die Zeit der Wün­sche vergeht. Im Bereich der staatlichen Institutionen bezeichneten Regievokabeln wie ›Abwicklung‹ und ›Warteschleife‹ alsbald eine Gesellschaft im Werden, in welche die abgestellten westlichen Fachleute einen Realitätssinn hineintrugen, der sich unbetroffen wusste durch den Wandel, als dessen Exekutoren sie sich im Land bewegten.

 

11.

Es war ihre Funktion, die solche Unbetroffenheit her­vorbrachte. Das Land korrumpiert, oder, in den Worten eines der ihren: »Es ist nichts, wie es scheint.« So ließ sich der wohl unvermeidliche, aber wütend in Abrede gestellte Kolonisatorenreflex deuten, dessen private Komponente lautete: Ich will zurück. Seine habituelle Konsequenz lag in der Abgrenzung: kein Umgang mit den anderen außer dem, den der Dienst verlangte und in dem man natürlich seine Erfahrungen machte. Gewisse Lokale, eigene Klüngel nach Feier­abend: Dies war die schleichende Korruption, das Hineingleiten in eine Lebensweise, mit der sich der Zugereiste an einer Realität schadlos hielt, die seine Funktionstüchtigkeit beeinträchtigte, weil es sowohl am Zu­- wie am Abfluss haperte, ohne die seine präten­dierte Macherqualität nichts weiter war als ein toter Darm. Was er sah, genügte ihm. Darüber tauschte er sich mit seinesgleichen aus. Doch die Realität, die seinem prüfenden Blick nicht standhielt, besaß Augen, sie blickte ihn an, sie blickte ihm nach. Er genoss die­ sen Blick, den Blick einer Unbekannten, von der er nicht wusste, ob sie sich ihm versagen würde, wenn er sie später aufs Zimmer bäte. Natürlich schwant ihm, dass sie nicht kommen würde. Auch würde er es nicht darauf ankommen lassen. Doch hier, in diesem Büro, in diesem Restaurant schmeichelt der Blick, der nicht von ihm loskommt, schmeichelt die Macht, die dieser Blick ihm zuspricht. Schon redet er von Illusionen, die er zerstören muss – »Sie machen sich ja keinen Begriff« –, von Schicksalen, für die er Verantwortung trägt, ohne sie zu kennen, von der notwendigen Härte, während ringsum die Gespräche einsilbiger werden und die Blicke sich senken.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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