Vom Verblassen der jüdisch-christlichen Mythologie der Seele spricht Rilkes zweite Duineser Elegie.
Wohin sind die Tage Tobiae,
da der Strahlendsten einer stand an der einfachen Haustür,
zur Reise ein wenig verkleidet und schon nicht mehr furchtbar;
(Jüngling dem Jüngling, wie er neugierig hinaussah).
Für die Generation nach Nietzsche, die sich der Aufgabe annimmt, das christlich bestimmte Erbe des alten Europa als ein Konglomerat tiefsitzender Einstellungen zur Realität, zur Moral, zur Transzendenz etc. zu ›überwinden‹, ist das Engel-Motiv sensu stricto verbraucht – aus Gründen, die dem heutigen Bewusstsein noch immer höchst zugänglich dünken. Auch Rilke, der gern und oft Engel in seinen Gedichten auftreten lässt, weiß sich den Bestrebungen der Jahrhundertwende verbunden, die unsicher vagierende, sich christlich-theologischer Vorgaben sukzessiv entziehende Frömmigkeit in neue Aufgaben einzuweisen.
Die ›Tage Tobiae‹ bezeichnen die Zeit der Legende, jene einesteils längst vergangene, einesteils bis an die Schwelle der Gegenwart reichende Vorzeit, die nicht ganz vergangen war, solange das Bewusstsein sich noch von Legenden nährte: Sie ist nun vorbei. Zwar bleibt fürs erste ungewiss, ob von individueller Lebenszeit oder von Kulturepochen die Rede ist. Die elegische Klage kann und will aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass jene Zeit nicht einfach ›vergangen‹, dass sie vielmehr – für das ›modern‹ geprägte Bewusstsein – passé ist. Das moderne Bewusstsein ist das in jeder Hinsicht erwachsen gewordene Bewusstsein. Um seine Erfahrungen geht es.
Das lässt vermuten, dass in der durch die Frage angezeigten Tatsache kein Verlust liegt, zumindest kein substantieller: Welchen Sinn könnte der Dichter dem Vorgang sonst unterlegen, es sei denn, er entschlösse sich, dem konservativen Topos folgend, darin einen nicht wiedergutzumachenden Verlust an Substanz anzuzeigen? Mit der Fähigkeit zu substantieller Rede – in dem Engel wohl ihren angestammten Ort hätten – wäre dann den Zeitgenossen selbst ein Stück Substanz verloren gegangen. Der Dichter kennt die Versuchung, so zu reden, und gibt ihr ein Stück weit nach:
Träte der Erzengel jetzt, der gefährliche, hinter den Sternen
eines Schrittes nur nieder und herwärts: hochauf-
schlagend erschlüg uns das eigene Herz. Wer seid ihr?
Doch die Rede begrenzt den Topos; auch von abwesenden Engeln lässt sich reden. Es bleibt die Rede selbst. Neu ist die Distanz, an welcher der Dichter der Elegie die Sprache, seine Sprache, erprobt. Das moderne ›Herz‹ schlägt anders. Es veranlasst ein gewandeltes Denken, das die Auskünfte einer vergangenen Welt scheut, die aus dem Mythos überkommene Frage ein weiteres Mal zu stellen: ›Wer seid ihr?‹ Wenn hier ein Problem liegt – und sei es nur für das Bedürfnis des Lesers, dem Dichter Wort für Wort zu folgen –, dann darin, dass diese Frage gestellt wird, obwohl es leichte Mühe kostete, sie als unzulässig zu eliminieren. Es erübrigt sich also, verstehen zu wollen, was Engel ›darstellen‹, was sie ›bedeuten‹. Das Problem liegt an der Oberfläche: Warum noch von Engeln reden? Soll heißen: Welche Absicht verfolgt die phantastische Zwiesprache, und welchen ›entwachsenen‹ – um den Ausdruck der Elegien aufzugreifen – Sinn sind wir ihr beizulegen bereit?
Engel finden sich in der Literatur des Fin de siècle keineswegs selten. Der Expressionismus macht von ihnen regen Gebrauch. Dass sie in Rilkes Gedichten auftreten, bedeutet, für sich genommen, wenig. Es besteht kein Grund, dem Dichter der Elegien deshalb eine ›Privatmythologie‹ zu unterstellen. Keine Mythologie ist privat. Ergiebiger dürfte es sein, einen der nicht so seltenen Fälle anzunehmen, in denen ein Plausibilitätsverlust sich als Quelle der Inspiration erweist. In den Elegien greift Rilke eine Rede auf, die älter ist als seine poetische Produktion. Der Nachdruck liegt darauf, dass und wie er sie aufgreift. Er nimmt sie auf, weil sie ihm vertraut ist, und er entkleidet sie dieser Vertrautheit im gleichen Zug. Er bedient sich ihrer nicht auf eine Weise, die, naiv oder scheinnaiv, voraussetzt, es gebe Engel. Noch weniger bedient er sich ihrer allerdings dazu, es zu bestreiten oder in Zweifel zu ziehen. Die Rede selbst zieht ihn an; sie wird von ihm reflektiert. Die Reflexion – ein wichtiger Zug – wird durch das Medium Vers getragen und so geprägt, dass der Zweifel, ob das, was hier in Versen gesagt wird, noch in Prosa aufgelöst werden könne, rasch der Überzeugung weicht, dies sei kaum vorstellbar. Offensichtlich erfindet Rilke seinen Vers für diese Reflexion neu: Seine ›Dunkelheit‹ verweist auf ein Übersetzungsproblem.
Die Frage verschiebt sich also. Die Reflexion beginnt nicht, mit Rilke zu reden, im ›Ungefähren‹, und sie setzt offenkundig mehr voraus als eine zufällige Lektüre oder Reminiszenz. Bis hin zu den Elegien bleiben Rilkes Engel mehr oder minder harmlose Surrogate. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie das dichterische Gemüt und die Portale gotischer Dome bevölkern, ist ihr Element. Der Dichter war, wie man sagt, anders beschäftigt. Neu ist das Befremdliche des Motivs. Und neu ist die Auslegung, die der Dichter ihm gibt: als Unfasslichkeit des Engels. Neu wogegen? Gegen eine entleerte Tradition? Das wäre ein schaler Gedanke. Die Frage muss reformuliert werden: Sie konzentriert sich auf den Zusammenhang, in dem Rilke das Motiv der Fasslichkeit aufgreift. Welcher vorausliegende Dichtungsentwurf, zu dem Rilke seinen eigenen in Konkurrenz begreift – denn es zeichnet sich ab, dass die Behandlung des Engelmotivs in den Elegien mit weitreichenden Überlegungen zur Modernität der Dichtung korrespondiert –, wäre imstande, den Reflexionsgang der Elegien zu motivieren?