Das Ereignis am Anfang von Rilkes erster Elegie (falls es hier so etwas wie ein Ereignis gibt) ist nicht der Eintritt des Engels. Dieses Nichtereignis aber, das Nicht-Eintreten des Engels, wird zum Gegenstand einer fortlaufenden Reflexion. Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn...? Von welchem Schrei ist da die Rede? Warum im Konjunktiv? Die Elegie beginnt unvermittelt, als Einrede in einem Zwiegespräch, das der Dichter auf der Bühne seines Herzens führt. Wem fällt in diesem dialogisierenden Monolog die Rolle des Gegenspielers zu? Eines ist sicher: Die antithetische Denkfigur Georges, ›Fülle‹ versus ›Mangel‹ (auch das eine Hölderlin-Reminiszenz: ›Dichter in dürftiger Zeit‹), zurückgewandt auf das erste Gedicht des Vorspiels, wäre geeignet, den Schrei zu motivieren. Denn angenommen, Rilkes Rede nähme an derjenigen Georges Maß, angenommen ferner, es bestünde auch nur die entfernte Möglichkeit dessen, wovon die George-Verse sprechen (die Möglichkeit des Eintritts der Fülle des Lebens), so wäre der Schrei unmittelbarer Ausdruck eines in diesem Mangel wurzelnden Begehrens. Wenn, wie George es nahe legt, die ›moderne‹ (das Wort in der schillernden Doppelbedeutung von Epoche und ästhetischem Programm genommen) Geistesverfassung den Mangel auf Dauer gestellt hat, so hebt der Eintritt des Engels beides ohne weiteres auf. Angesichts der avisierten Möglichkeit, die Situation der Moderne so zu verlassen, wie ein Mensch aus einem Zimmer in ein anderes wechselt, erscheint der Schrei (diese äußerste Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erringen) als die Reaktion dessen, dem das Unterfangen verwehrt bleibt oder verwehrt zu bleiben droht.

Die Frage, mit der die Elegie beginnt, ist nicht die Frage eines, der auf das Ereignis – das Eintreten des Engels – wartet. Weit eher ist es die einer Person, deren Warten zu bröckeln beginnt und die darüber ins Grübeln verfällt. Auf welche Vorstellung des Erwarteten gründet sich ihre Erwartung? Schließen sich beide am Ende aus? An welchem Ende? Der Wartende formt das Bild des Erwarteten nach den Erfahrungen der Wartezeit. Moderne ist Zeit des Wartens – darauf, dass sie vergeht. Die Erfahrung der Moderne hingegen bezieht sich auf ihr unaufhebbares Gegenwärtigsein, in dem die Zeit, die vergeht, zur leeren, zur verrinnenden Zeit wird, gegen die keine Heilserwartung ankommt. Das ist nicht verwunderlich. Es folgt – bei George wie andernorts – aus dem schlichten Vorzeichenwechsel. Wenn als ›modern‹ die Depotenzierung des Lebens durch die Methode gilt, die nur das durch Negation Erzeugte zulässt, und wenn – zweiter Schritt – das so Erzeugte zu einem Produkt des Mangels erklärt wird, das den Zugang zum vollen Leben verstelle, dann entsteht eine perfekte Bewusstseinsfalle für das sich in der Modernität seiner Denk- und Erfahrungsinhalte einrichtende Subjekt. Ein Entrinnen erscheint kaum noch möglich. Georges Engel-Erlebnis wirkt da wie eine bis zur Selbsttäuschung getriebene Provokation. Die subjektive Erfahrung im Wartesaal der Moderne bezeugt eine Vergeblichkeit, die beides, das Tun und das Geschehenlassen, zu gleichen Teilen einschließt. Warum also schreien, wenn es nicht hilft? Und warum sollte dies helfen, wenn nichts hilft?

Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.

Der Gestus des Alle-Möglichkeiten-Erkundens in diesem ›und gesetzt selbst‹ ist George völlig fremd. Gerade das macht sein Gedicht zur überzeugenden Vorlage. Welche Gewissheiten hat einer, der wie George zu schreiben vermag? Offensichtlich solche, von denen, näher betrachtet, wenig übrig bleibt. Das ist der Part, den Rilke übernimmt – der gegebene Part dessen, der später kommt. In Rilkes Elegien befragt, plakativ gesprochen, die perennierende Moderne eine in Aufbrüchen verlodernde Postmoderne nach ihren Gründen. Das ›gesetzt selbst‹ Rilkes konzediert die Möglichkeit des Georgeschen Erlebnisses auf der Ebene freier Erwägung. Es ist wichtig, das zu betonen, weil ein alltägliches Vorurteil über das ›Dichterische‹ diesen Aspekt leicht verdeckt. Das Gedicht beginnt mit einer Reflexion, es beginnt als Reflexion. Sie nimmt den poetischen Entwurf des anderen beim Wort und konfrontiert ihn mit Einsprüchen, die aus der Betrachtung des ›Arguments‹ entspringen. Es wäre müßig, darauf hinzuweisen, dass Rilke nicht mehr über die Natur der Engel weiß als George. Wenn er anderes über sie zu sagen hat, dann deshalb, weil ihn die Rede des anderen nicht überzeugt. Das auf den ersten Blick leicht naiv wirkende ›ich verginge von seinem stärkeren Dasein‹ zeichnet eine Konsequenz der Georgeschen Rede nach, der gemäß der Engel kaum mehr ist als eine Art stärkeres Dichter-Ich. Die leere Differenz führt dazu, dass in manchen Gedichten des Vorspiels nicht oder kaum zu unterscheiden bleibt, wer spricht: Dichter oder Engel. Natürlich spricht der Dichter auch dort, wo der Engel spricht. Rilkes Vers macht – zu Recht – darauf aufmerksam, dass dies gar nicht zu vermeiden ist, weil es in der Logik des ›Arguments‹ liegt. Wo die Konturen von Mensch und Engel verschwimmen, da spricht der Mensch, als sei es der Engel. Das aber heißt: Er spricht nicht länger aus eigener Erfahrung. Angenommen, dem Dichter gelänge die Engel-Rede im Gedicht: Das Unausdenkbare bestände darin, dass seine Rede die menschliche Erfahrung überstiege, so dass der Redeinhalt nicht länger erfahrbar bliebe. Das Subjekt ›verginge von‹ solcher Rede. Es ist nicht anzunehmen, dass George dieser Lesart heftig widersprochen hätte. Die Differenz liegt darin, dass Rilke ihm das Recht zu seiner Rede bestreitet.

Der Grund wird gleich genannt. Er liegt in dem berühmten Satz über das Schöne, das ›nichts‹ sei ›als des Schrecklichen Anfang‹. Mit diesem Satz beginnt Rilkes Entkräftung des Wende-Mythos. Dass der Engel, wie es bei George heißt, der Bote des schönen Lebens sei (und als Bote bereits Garant seiner Gegenwart), wird nicht in Abrede gestellt. Im Gegenteil: Es ist die Voraussetzung des Rilkeschen Argumentierens. ›Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang‹ bedeutet: Das schöne Leben ist nur das leere Produkt einer fehlgegangenen Einbildung, wenn es gedacht wird, als mache es das Schreckliche vergessen. Das schöne Leben – es wäre müßig, das ›Schöne‹, wie es bei Rilke heißt, in Opposition zum ›Leben‹ bringen zu wollen – ist das Leben, das sich vor dem Schrecklichen nicht verschließt. Georges Gedicht wirkt, so betrachtet, ahnungslos angesichts dessen, wovon es redet. Es rührt an Dinge, die es nicht ausspricht. Der Dichter geht über sie hinweg. Er geht voraus: Der Nachfolgende dankt ihm den Fingerzeig.

Das Schöne ist Ausdruck einer Paradoxie: weil es gelassen verschmäht, / uns zu zerstören. Was wäre das Schreckliche anderes als die dunkle Kraft der Zerstörung, der sich die Elegie in der Klage nähert? Das Schreckliche schreckt – in Bildern der Zerstörung, soll heißen, der aus dem Jenseits der subjektiven Existenz hervorbrechenden Vernichtung, angesichts derer der Klagende sich für ›eine Weile‹ verschont weiß, wie es in einem der Sonette an Orpheus heißt, das vom gesteigerten Dasein handelt:

Auch die sternische Verbindung trügt.
Doch uns freue eine Weile nun
der Figur zu glauben. Das genügt.

Ein nachgelassenes Gedicht zeichnet den Zusammenhang nach:

Da steht der Tod, ein bläulicher Absud
in einer Tasse ohne Untersatz.
Ein wunderlicher Platz für eine Tasse:
steht auf dem Rücken einer Hand. Ganz gut
erkennt man noch an dem glasierten Schwung
den Bruch des Henkels. Staubig. Und: ›Hoff-nung‹
an ihrem Bug in aufgebrauchter Schrift.
 
Das hat der Trinker, den der Trank betrifft,
bei einem fernen Frühstück ab-gelesen.
Was sind denn das für Wesen,
die man zuletzt wegschrecken muß mit Gift?
 
Blieben sie sonst? Sind sie denn hier vernarrt
in dieses Essen voller Hindernis?
Man muß ihnen die harte Gegenwart
ausnehmen, wie ein künstliches Gebiß.
Dann lallen sie. Gelall, Gelall ....
..............................................
 
O Sternenfall,
von einer Brücke einmal eingesehn –:
Dich nicht vergessen. Stehn!

Das Motiv des Schreckens hält direkten Bezug zum Todesmotiv. Der Schreck(en) fesselt das menschliche Bewusstsein an das Faktum des Todes. Wer im Schönen das Schreckliche übersieht, der übersieht den Tod. Wer sich unterfängt, das Schreckliche durch das Schöne auszugrenzen, der verneint den Tod. Das ist Rilkes Vorwurf an George. Ob er zu Recht besteht, ist keineswegs eindeutig zu entscheiden. Doch es lässt sich nicht leugnen, dass Rilke damit bei seinem Thema ist: das Schöne als das Vorspiel des Todes. Die Erschütterung, die vom Schönen ausgeht, öffnet die Zugänge des Todesbewusstseins. Der Bote des schönen Lebens ist der Bote des Todes, mit dem es keine denkbare Gemeinsamkeit gibt. Oder doch?