So wie Jakob mit dem Engel rang
ringt der Weinstock mit dem Sonnen-Riesen,
diesen großen Sommertag und diesen
Tag im Herbst, bis an den Untergang.
 
Der gelockte schöne Weinstock ringt.
Aber abends, langsam losgelassen,
fühlt er, wie aus dem Herüberfassen
jener Arme ihn die Kraft durchdringt,
 
wider die er, wie ein Knabe, drängte;
ganz gemischt mit seinem Widerstand,
wird sie nun in ihm das Unumschränkte...
Und der Sieg bleibt rein und unerkannt.

Das Gedicht aus dem Jahr 1923 lebt von einer zweifachen Inversion. Poetisch – in einem angestammten Sinn – wäre es, wenn das Ringen des Weinstocks mit dem ›Sonnen-Riesen‹ als Metapher für den biblischen Zweikampf zwischen Jakob und dem Engel ausgeführt würde. Selbstredend stände letzterer im modernen Kontext für etwas anderes, nämlich für das innere Ringen des Subjekts – worum auch immer. So ist das Gedicht nicht gebaut. In ihm grundiert die biblische Vorlage das Gleichnis vom Weinstock, dessen ›Sinn‹ in der Anwendung liegt. Nicht ein Ringen-um-etwas, sondern die Figur des Ringens selbst, losgelöst und – innerhalb des Verweisungssystems Gedicht – auf sich selbst verweisend, wird durch die Technik der Inversion herausgehoben. Gehe – so lautet die Anwendung – bis an die Grenzen deiner Kraft. Aber wisse, dass das, was du zu erringen gedenkst, dir erst dann zufließen wird, wenn deine aufs äußerste gespannte Kraft von ihm abzulassen beginnt.

Es bleiben Fragen. Wem gehört eigentlich der Sieg, von dem die letzte Zeile spricht? Dem Weinstock? Der Sonne? Die Frage scheint unentscheidbar. Betrachten wir die Bibelstelle:

Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok, nahm sie und führte sie über das Wasser, so dass hinüberkam, was er hatte, und blieb allein zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnetest mich denn. Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stelle Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.

Jakob erringt den gewünschten Segen. Die Hüftverletzung, mit der er bezahlt, wird zum sichtbaren Zeichen des Kampfes, das ihn vor den Seinen auszeichnet. Darauf scheint Rilke sich zu beziehen, wenn er den Sieg ›rein und unerkannt‹ nennt. Der Sieg des Weinstocks enthält keine Auszeichnung, keine Verheißung für diesen da. Sein Sieg verbirgt sich in der Frucht. Doch was ist das für ein Motiv?

Georges Version des ungleichen Kampfes findet sich im zweiten Gedicht des Vorspiels.

Gib mir den grossen feierlichen hauch
Gib jene glut mir wieder die verjünge  
Mit denen einst der kindheit flügelschwünge
Sich hoben zu dem frühsten opferrauch.
 
Ich mag nicht atmen als in deinem duft.
Verschliess mich ganz in deinem heiligtume!
Von deinem reichen tisch nur eine krume!
So fleh ich heut aus meiner dunklen kluft.
 
Und er: was jezt mein ohr so stürmisch trifft
Sind wünsche die sich unentwirrbar streiten.
Gewährung eurer vielen kostbarkeiten
Ist nicht mein amt · und meine ehrengift
 
Wird nicht im zwang errungen · dies erkenn!
Ich aber bog den arm an seinen knieen
Und aller wachen sehnsucht stimmen schrieen:
Ich lasse nicht · du segnetest mich denn.

Auch diese Verse bezeichnen die beiden Momente des Ringens und des Gewährenlassens. Doch sie teilen sie auf die Parteien auf. Der Engel, der hoheitsvoll die auf ihn einstürmenden Wünsche des Subjekts abwehrt und seine Ehrengabe ›nicht im Zwang‹ erringbar nennt, muss sich im Kampf der Worte geschlagen geben. Ein aufs äußerste gespanntes Begehren schleudert das Jakobswort wie einen mächtigen Zauberspruch heraus. Ein wenig boshaft ließe sich sagen: George vertraut der täuschenden Kraft der Dublette. Und dieser Sieg bleibt keineswegs ›rein und unerkannt‹. Im Gegenteil, er besteht in Auszeichnung und Verheißung: in Gefolgschaft und Führertum.

Rilkes späte Verse rücken das zurecht. Gegen den Triumph des Willens à la George setzen sie auf eine Kraft, die zum Erfolg kommt, weil sie sich zurücknimmt. Das Ziel – strahlend, riesig –, das alle Kraft absorbiert, wird durch ebendiesen Aufwand auf Distanz gehalten, wie es in der siebenten Elegie heißt.

                                      Glaub nicht, daß ich werbe.
Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein
Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke
Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter
Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen
oben offene Hand bleibt vor dir
offen, wie Abwehr und Warnung,
Unfaßlicher, weitauf.

Der Engel zeichnet niemanden aus. Der einzelne dürfte es nicht einmal wollen. ›Abwehr‹ und ›Warnung‹ gelten der unbestimmten Restangst, die Erlebnissphäre könne überraschend implodieren und die mühsam erworbene Disziplin des Individuums in Stücke reißen. Bleibt die Frage, worum es in diesem Ringen geht. Welchen ›Sieg‹ hält der Dichter der Duineser Elegien fest im Auge?

 

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