Rilke, dem Sensualisten, gilt Reflexion keineswegs als ein gegebenes Medium dichterischer Mitteilung. Er ist befangen. In der Rhetorik, der seine Prosa verhaftet bleibt, steht Reflexion, im Gegensatz zum ›Anschaun‹ oder ›Einsehn‹ (›réalisation‹), für etwas zu den Dingen Hinzutretendes, sie Auflösendes, dem sich die Dichtung zu entziehen habe. Sie bleibt verbotenes Terrain. Das wirkt sich aus. Wo immer sie, sich selbst verleugnend, in seinem Werk ins Spiel kommt, legt sie Abhängigkeiten frei. Der Rilke-Vers Du musst dein Leben ändern ist wenig mehr als der leere und unverstellte Ausdruck der von George verkündeten, aus der Erfahrung der Kunst hervorgehenden Wende. Oft genug erscheinen – etwa seit den Neuen Gedichten – concetti Georgescher Herkunft bei ihm in den transparenten Duktus eines Autors übertragen, der sich im Nachdenken nicht gestört wissen möchte. Dieses Nachdenken ist kein Hinterherdenken, kein sekundäres Denken, das herauszufinden versucht, was der Autor meint. Es nimmt den Gedanken dort auf, wo ihn der Vorgänger liegen ließ – Nachdenken nicht über die Kunst, sondern in der Kunst, mit ihren Mitteln. Die Gleichsetzung von Kunst und Magie ist bereits ein Gemeinplatz, als Rilke sie aufgreift. Zu denken gibt, wie er sie aufgreift und wendet –

Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen
solche Gebilde –: Fühl! und glaub!
Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen;
doch, in der Kunst: zur Flamme wird der Staub.
 
Hier ist Magie. In den Bereich des Zaubers
scheint das gemeine Wort hinaufgestuft...
und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,
der nach der unsichtbaren Taube ruft.

›Hier ist Magie.‹ Das klingt eindeutig, bis der Einsatz der nächsten Zeile die Aussage in eine Unterstellung verwandelt, die, ausgehöhlt und gegengelesen durch das folgende ›und ist doch wirklich‹, als Übereilung kenntlich gemacht wird. Der Reiz dieses Gedichtes liegt darin, dass es den Ausdruck ›Magie‹ im Kontext handfesten Jahrmarktzaubers ansiedelt. Doch zweifellos sucht es die intellektuelle Auseinandersetzung: »in Stefan Georges unnachgiebiger Gestaltung ahnte man das wieder entdeckte Gesetz, dem keiner fortan, wenn es ihm um das Wort als Magie zu tun ist, sich würde entziehen können,« heißt es rückblickend in einem Brief aus dem Jahr 1924. Die Spekulation aufs ursprüngliche Denken wird abgewiesen. Gegenüber den Geschicklichkeitsbeweisen der Gaukler geschieht in der Kunst das, was zu geschehen scheint, wirklich. Das verpflichtet das Denken, von den Formeln, in denen es sich tot stellt, Abschied zu nehmen. ›Hier ist Magie‹: dieser Satz, statt gebetsmühlenartig wiederholt zu werden, will bedacht sein. Er ist bedenklich, er kann so nicht stehen bleiben. ›Magie‹ ist das richtige Wort, und es ist doch falsch. Kaum ausgesprochen, fällt es dahin. Zu wessen Gunsten? Das bleibt ebenso ungewiss wie die syntaktische Zuordnung des ›wirklich‹. Sollte wirklich das ›gemeine Wort‹ die Oberhand über den ›Zauber‹ behaupten? – ›Und ist doch wirklich‹: Das begreift alles ein, was vorher gesagt wurde, die Kunst und ihr Gelingen. Und es stellt die Wirklichkeit der Kunst gegen die Wirklichkeit, in der das gemeine Wort gemeinhin seine Funktion erfüllt. Anders wäre der Vergleich, der sich anschließt, gar nicht zu begreifen. Nicht ›wirklich‹, sondern ›wirklich wie‹ ist der Kern der Aussage. Doch wie wirklich der Ruf des Taubers sei, wird nicht gesagt. Versteht es sich von selbst? Keineswegs. Aber es steht für den Vorgang, den es umreißt. So zieht das Gedicht den Leser in einen Wirbel einander wechselseitig durchkreuzender Bestimmungen, um ihn in die Unabsehbarkeiten der Reflexion zu entlassen. Es ist dasselbe Verfahren wie in den Elegien.

Das Bild vom Tauber, der nach der unsichtbaren Taube ruft, zitiert einen ererbten Topos. Tauben begleiten den Wagen der Venus. Das Taubenpärchen ist ein Sinnbild zärtlicher und treuer Liebe. Offen bleibt im Gedicht, ob der Lockruf der künftigen oder der verschwundenen Gefährtin gilt. Beides ergäbe Sinn. Im Fall der entschwundenen Gefährtin ginge es darum, dem schon eingetretenen Verlust die Anerkennung zu verweigern, auf einem imaginär gewordenen Umgang zu beharren. Das korrespondiert einem Thema der Elegien, dem der Verlassenen, die du / so viel liebender fandst als die Gestillten. Hier erscheint es auf die Dichtung selbst zurückgewendet – auch darin steht es den Elegien keineswegs fern. Denn der Anruf des Dichters, erst zurückgehalten und dann wider alle Einsicht in Wendungen, die das Gegenteil andeuten, sich entfesselnd, gilt einem Engel, der ebenso unsichtbar bleibt wie die Taube oder der entschwundene Geliebte der ›Verlassenen‹, von denen die erste Elegie spricht. Nennen wir es – auf den Tauber zurückkommend – Instinktverhalten. Damit wäre der Bogen zu jener Anfänglichkeit des an die Ursprünge rührenden magischen ›In-der-Welt-seins‹ geschlagen, dem George die Dichtung überantwortet.

Es hebt sich leicht was eben dumpf und bleiern
Es blinkt geläutert was dem staub gezollt . .
Ein bräutliches beginnliches entschleiern . .
Nun spricht der Ewige: ich will! ihr sollt!

Das Problem besteht. Es ist kaum anzunehmen, dass Rilke, darin mit George übereinstimmend, über die Vorstellung eines die überkommenen Weltorientierungen ›zersetzenden‹ Negativismus einer Handvoll als modern rubrizierter Ideen (die durch das Maschinenzeitalter ihren schlagenden Charakter erhalten) hinaus das Denken selbst als negierende Instanz, als eine alle Bestimmtheiten auflösende Tätigkeit verstanden hätte. Das musste ihm zwangsläufig ein offenes Ohr für die Einflüsterungen der Mystagogen bescheren, denen zufolge unter der korrupten Oberfläche der modernen Lebens- und Denkgewohnheiten eine Schicht intakten, ›wirklichen‹, weil ursprünglich bewegten Lebens anzunehmen sei, zu der die Dichtung Zugang gewähre. Auf der anderen Seite gab es gute Gründe, dem Gesinnungszauber, der den Übergang vom falschen zum richtigen Denken per Dekret regeln möchte, zu misstrauen. Diese Gründe lagen in der Machart der Gedichte zutage. Sie warteten nur darauf, anerkannt zu werden. Von einsetzender Anerkennung zeugen diejenigen unter den Neuen Gedichten, die den Techniker bei der Arbeit zeigen. Zuerst muss anerkannt werden, dass das Spiel der Negativismen, der Aufhebungen, Brechungen, Interferenzen, in dem die Dichtung sich aus der Welt der Prosa-Bedeutungen entfernt, in ihr zu keinem Abschluss gelangt und gelangen kann. Die Doktrin der ›Verwandlung‹, aus der das Gebilde hervorgeht, erzeugt, recht bedacht, einen Negativismus, der über den der modernen Ideen – und ihrer Fundamentalkritik – weit hinausgeht und universal wird, also auch die Grundlagen der Doktrin angreift. Rilkes lyrisches Nachdenken der Wege und Wendungen, welche die Dichtung der ›Wende‹ nimmt, trägt diesen Angriff vor. Nur deshalb ist sie Reflexion. In der reflektierenden Prosa, die sie begleitet, ist manches anders: In ihr sammeln sich oft genug die weltanschaulichen Schlichtheiten, von denen die Lyrik sich abstößt: ›Alles Gerede ist Missverständnis. Einsicht ist nur innerhalb der Arbeit. Sicher.‹

Das Bild des Taubers als ein Bild reinen Instinktverhaltens muss daher ergänzt werden. Diese Ergänzung wird im Vers benannt – nur deshalb ist von ihr die Rede. Die unsichtbare Taube gibt das Bild eines abwesend Gewussten, das sich entzieht, das nur im Lockruf des Denkens gegenwärtig ist – keines ›kalt analysierenden‹, sondern sich in der Spannung auf ein anderes sich erhaltenden, vom Dichter als ›Herz-Werk‹, als Werk der Liebe annoncierten Denkens. Dichtung ist Denken als reine Intensität; der Engel, dem gleichermaßen Pluralität wie Singularität zugesprochen werden kann, weil es an ihm keinen Unterschied macht, bezeichnet die Leere, aus der zuströmend sich die Bedeutungen fortwährend erneuern, um sich in der Reflexion alsbald als hinfällig zu erweisen.

                     Ach, wen vermögen
wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht,
und die findigen Tiere merken es schon,
daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind
in der gedeuteten Welt.

Aber handeln die Elegien nicht eher vom Leben als vom Denken? Und ist die ›Welt‹, von der sie reden, nicht die gefühlte Welt anstelle der gewussten? Das lässt sich leicht aufklären. Erstens wiederholt die Entgegensetzung von Leben und Denken den Gemeinplatz, von dem sich Rilkes Dichtung – keineswegs seine reflektierende Prosa – verabschiedet. Zweitens kennt das Denken, von dem hier die Rede ist – Denken als reine Intensität – überhaupt keinen anderen Inhalt als das lebendige Bewusstsein in seinen allgemeinsten Bezügen. Jeder andere Inhalt, auch der des Denkens selbst, würde es auf ein gegenwärtiges Wissen festlegen, dessen Verschwinden es nur noch abstrakt postulieren, doch keineswegs mehr in die eigene Bewegung integrieren könnte. Dieses Verschwinden, der Tod der Bedeutungen, in dem sich die Hinfälligkeit der Dinge und dieses Bewusstseins spiegeln, das als Ding unter Dingen existiert, drängt sich dem Denkenden auf, der in der Spannung des Denkens verharrt, ohne an Resultaten, an Besitz interessiert zu sein. Der Tod ist der eine ausstehende, im Gefühl stets gegenwärtige Gegenstand eines Bewusstseins, das sich seiner Gegenstände in Ritualen des Abschiednehmens versichert:

Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
 
so leben wir und nehmen immer Abschied.

Zwischen dem ausstehenden Tod und dem Fortfall der Dinge und Lebensformen erfindet die Dichtung das Leben neu, als ›wirkliches‹ Leben. Wirklich ist das Leben im gefühlten Wort – dem Wort, das, selbst gefühllos wie der steinerne Engel von Chartres, dem Gefühl etwas schon verloren Geglaubtes, ein Stück entgangenen Lebens zurückgibt. ›Von Hingang lebend‹ ist die Formel, die Rilke dafür erfindet:

                       – Und diese, von Hingang
lebenden Dinge verstehn, daß du sie rühmst; vergänglich,
traun sie ein Rettendes uns, den Vergänglichsten, zu.

Das ist kein Mystizismus. Die Dinge, von denen die Rede ist, die einfachen, von Menschenhand geformten Dinge des alltäglichen Gebrauchs, sind lebend von einem doppelten Hingang – dem eigenen, sich in den Spuren vergangener Benutzung dokumentierenden Zerfall und dem Vergangensein ihrer vormaligen Benützer. Das an der Flucht der Dinge trainierte, sich ihnen spontan öffnende Gefühl wird in der Öffnung der grundlosen Solideszenz des Daseins gewärtig. Das Objekt ist fühllos. Doch dem ihm aufgetanen Bewusstsein kommt es im Gefühl entgegen. An ihm sättigt es sich mit Vergangenem, als sei es gegenwärtig. Dergleichen geschieht: Dass es geschieht, unterliegt keinem Zweifel; warum es geschieht, diese Frage entbindet jeden Zweifel – im Gedicht.

 

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