Gegen die von Rilke bevorzugte Kunstform der forcierten Reflexion steht Georges striktes Reflexionsverbot. Es umfasst beides: das Gedicht und seine Auslegung. Die Wendung, in der es erstmals auftritt, legt den Gedanken nahe, in ihm setze sich das operierende Ich gegen die Besetzung durch ein Denken zur Wehr, dessen Inhalte von anderen erzeugt, vorfabriziert wurden.

Im rasen rastend sollst du dich betäuben
Am starken urduft · ohne denkerstörung ·
So dass die fremden hauche all zerstäuben.

Doch lässt die Opposition ›urduft‹ – ›denkerstörung‹ keinen Zweifel daran, dass das Denken selbst – also auch das Denken dieses wie das eines jeden Subjekts – das Ich auf Abwege bringt. Nicht im wirklichen Leben, das hier nichts weiter als die Summe dieser Abwege meint, sondern in der Konzentration auf das, was dem Kunstwerk zugrunde liegt und durch das Gedicht in die Sprache eintritt. Das Denken rückt den Denkenden aus seiner nur im Schweigen – und angesichts der Kunst – erfahrbaren Mitte: ein nicht ganz falscher Gedanke und – ein Gedanke, der das Denken stillstellen soll, auf dass Dichtung entstehe.

Rilke hat gegen die Exzentrizität des denkenden Subjekts nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Die Übergänglichkeit des Denkens, die im Gedankenwirbel stärker – und gefährdeter – zutagetritt als im systematischen Verknüpfen, führt auf den Sachverhalt, dem sich seine Dichtung auf allen möglichen Wegen nähert. In einem Glanzstück mimetischer Versifikation (›Nächtliche Fahrt‹) führt ein nicht enden wollender Rhythmus die Blockade eines Denkens durch einen die Form sinnlicher Prägnanz okkupierenden Gedanken über allen Gedanken als Irrsinn vor und löst sie in die fließende Bewegung auf, der nichts entgeht:

damals hörte diese Stadt
auf zu sein. Auf einmal gab sie zu,
daß sie niemals war, um nichts als Ruh
flehend; wie ein Irrer, dem das Wirrn
plötzlich sich entwirrt, das ihn verriet,
und der einen jahrelangen kranken
gar nicht zu verwandelnden Gedanken,
den er nie mehr denken muß: Granit –
aus dem leeren schwankenden Gehirn
fallen fühlt, bis man ihn nicht mehr sieht.

Aus diesem schneidenden Gegensatz geht der an den Anfang dieser Überlegungen gestellte hervor. Die Fasslichkeit des Georgeschen Engels bildet die keiner Korrektur bedürftige Proportioniertheit der aus dem unfasslichen Ursprung spontan hervortretenden ›Gestalt‹ (wie der von Rilke übernommene Terminus lautet) ab. In ihr erfasst das Leben den einzelnen. Das auge schauend harre der erhörung. Die Unfasslichkeit des Rilkeschen Engels stammt aus einer primären Bestürzung, die sich in der exzentrischen, nirgends aufruhenden Bahn des Denkens genauso bekundet wie im Flug der Fledermaus:

Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß. Wie vor sich selbst
erschreckt, durchzuckts die Luft, wie wenn ein Sprung
durch eine Tasse geht. So reißt die Spur
der Fledermaus durchs Porzellan des Abends.

Doch was, in der Metapher gesprochen, schneidet der Gegensatz? Sieht man näher hin, so finden sich Züge an ihm, die abweichende Akzente setzen. Zunächst fällt es auf, dass George das Reflexionsverbot zu einem Zeitpunkt formuliert, zu dem er sich als Schüler des ›maître‹ Mallarmé der ästhetischen Moderne verschreibt. Die intendierte Gestalt ist hier die Kunstgestalt, das Werk. Im Urerlebnis – ›urduft‹ – rüstet sich das Subjekt zur künstlerischen Tat. Das Reflexionsverbot entstammt also einer bestimmten Reflexion. Man kann sie ästhetisch nennen, um anzudeuten, dass sie sich auf die Entstehungs- und Wirkungsbedingungen von Kunstwerken bezieht. Wenn sie allerdings, wie im vorliegenden Fall, Eintritt ins Kunstwerk selbst findet, dann schafft schwerlich ein Argument den Widerspruch aus der Welt, der sich damit auftut. Die Aufforderung zum Denkverzicht im Gedicht bringt die Störung hervor, die doch vermieden werden soll. Oder sollte sie eher beiseite gesprochen sein, um den Leser wie auf einer Bühne beiläufig einzustimmen auf das, was kommt?

Es würde wenig nützen. Denn was da wie eine defekte Schallplatte abgestellt werden soll, dieses Denken findet von Vers zu Vers neue Nahrung. Die eingestandene Raffinesse dieser Dichtung, auf ihre Wirkung hin entworfen, ›konstruiert‹ zu sein, unterläuft ohne weiteres die beabsichtigte Wirkung. Jedes ersichtlich konstruierte Gebilde erweckt im Betrachter den dringenden Wunsch, herauszufinden, wie es gemacht wurde. Gerade der gelungene Eindruck beflügelt die Lust, den verborgenen Mechanismus ans Licht zu ziehen. Der ›Mechanismus‹ des Kunstwerks aber besitzt die Eigenart, nur in der ästhetisch genannten Reflexion aufgewiesen werden zu können. Der Appell des Gedichts, jede ›Denkerstörung‹ zu vermeiden, wirkt da wie eine Aufforderung an den Leser, sich wissend zu verhalten, also die beiden Seiten des Vorhangs zu bedenken, der so offensichtlich Vorder- und Hinterbühne trennt.

Fragt man nach den Motiven, aus denen das Reflexionsverbot bei George hervorgeht, so gerät man rasch an die im Mallarmé-Kreis gepflegte Vorstellung, Poesie sei die wiederhergestellte Sprache der Magie: ein Zauber mit Worten. Allerdings wäre ihre Wirkung nicht im Hokuspokus der Wunderheiler und ihrer Geistverwandten zu suchen, sondern in der Wiedergewinnung der magischen Denkweise selbst. Denn diese Denkweise ist verschüttet – davon geht man aus. Ihre Elemente grundieren zwar nach wie vor das elementare Weltverhältnis des zivilisierten Europäers. Aber dort, wo er sich über sich selbst und seine Welt verständigt – auf dem Markt der modernen Ideen –, sind sie wertlos. Zugang zu ihnen findet man am ehesten an den Rändern der Kultur: im bäuerlichen Denken, bei den einfachen Leuten – verständlicherweise, da diese, nicht beteiligt an den Planspielen der Intellektuellen, den Vorrat an herrschenden Ideen mit eben dem Misstrauen und Unverständnis betrachten, mit dem sie die Bemühungen der Herrschaft verfolgen würden, ihre Pläne eigenhändig in die Tat umzusetzen.

Das einfache Denken hat nur einen Fehler. Zwar ist die Sprache, in der es sich artikuliert, innerhalb der modernen Welt allgegenwärtig. Aber sie besitzt keine Geltung. Die bäuerliche Sprache, die Dienstbotensprache sind Reservate eines Denkens, das sich von selbst für jeden verbietet, der dort zugelassen sein will, wo ernsthaft gedacht wird oder die Resultate dieses ernsthaften Denkens in Anspruch genommen werden. Sie macht keinen Eindruck. Und darauf kommt es an. Eindrücke hervorrufen, nicht irgendwelche, sondern die stärksten, unvermischten, in denen ein ursprüngliches Weltverhältnis hervortritt, ist der Zweck der Kunst – das sieht George nicht anders als Valéry. Das magische Wort wirkt ebenso plötzlich wie umfassend. Es wirkt zündend. Was da gezündet wird, der Blitz der Selbsterkenntnis, bewirkt jene Umkehr, die den, der sich getroffen weiß, zum ›Fremdling‹ in der modernen Welt werden lässt.

Das Rezept, das George und seinesgleichen den Dichtungen Mallarmés entnehmen, besteht darin, die Sprache, die diese Denkweise verdrängt und verhöhnt hat, die Sprache der Vernunft und einer in den Naturwissenschaften und den aus ihrem Geist hervorgegangenen Ideen wie Darwinismus und Sozialismus ihren Ausdruck findenden Weltsicht, durch ein subtiles Spiel von Negationen und Nichteindeutigkeiten um ihren in toto außer Funktion gesetzten Sinn zu betrügen. Die Poesie als ›mache‹ ist mit diesem Betrug identisch. Dort, wo sie sich der bereitliegenden poetischen Sujets bedient, zerstört sie mit Kalkül den ›vernünftigen Sinn‹, den eine beachtliche ästhetisch-philologische Kritik ihnen unterlegt hat. Die Resultate sind bekannt. Kein Museum der modernen Poesie möchte sie entbehren. Doch hier wie anderswo erweist der Erfolg sich als tückisch. Das poetische Machwerk soll den Bruch mit dem verachteten rationalen Denken vollziehen. Stattdessen gibt es diesem Denken, das keineswegs zulassen kann, dass sich ihm ein Produkt des Geistes mit Erfolg entzieht, die stärksten Impulse. Und das nicht allein: Das ›Machwerk‹ selbst entpuppt sich rasch als ein Ort – im Ansatz – rationaler Verständigung. Der Grund liegt darin, dass der ausgeblendete Sinn sich nicht etwa von selbst versteht, sondern gewusst – oder konstruiert – werden muss. Schließlich ist es nicht der denkbare – und denkbar beliebige – Sinn dieser oder jener poetischen Stelle. Dies gerade nicht. Auch fällt er keineswegs im Kunsterlebnis alsbald der Wesenlosigkeit anheim. Ganz im Gegenteil: Da er nur als Hypothese über den Geist der modernen Welt (oder wie die Formeln lauten mögen) existiert, ist er in dieser Kunst und im Umgang mit ihr allgegenwärtig. Die Kennzeichen der ästhetischen Moderne sind ex negativo auch Kennzeichen der pragmatischen, der lebensweltlichen Moderne, zu der sie Distanz signalisieren. Der Selbst-Isolation des künstlerischen Subjekts entspricht die lebensweltliche Vereinzelung der Subjekte – seit Rousseau eines der vornehmsten Themen der Kulturkritik –, der naturfernen Artifizialität der Gebilde die angebliche Formlosigkeit des modernen Daseins, dem Mystizismus der Form die jeweils schon im voraus diagnostizierte platte Durchsichtigkeit der Erträge des rationalen Denkens. Vor allem letzteres gibt zu denken. Die physiognomische Deutung des rationalen Zeitalters setzt eine Immergleichheit in den Phänomenen voraus, die nur hinter ihnen vermutet werden darf. Die scheinbar denkferne Kunst fußt auf einer Kritik, die sich als rationale Leistung darzustellen hat, wenn sie sich überhaupt begreiflich machen will. Die Kunst, die ihren ›Sinn‹ ins Unbegreifliche entrückt, erscheint unmittelbar begreiflich aus den Prämissen der Kritik. Auf diese deutet sie unentwegt hin, während das versprochene Urerlebnis so unbegriffen bleibt wie eh und je.

Wenn George im Vorspiel die Vorzeichen umstellt, dann trägt er damit in gewisser Weise einer Tendenz Rechnung, die nicht mehr braucht als die Erfahrung dieser Kunst. Denn das Wechselspiel von theoretischen Prämissen und uneingelösten ästhetischen Versprechen, von einem nicht zu eskamotierenden Wissen, das sich ›störend‹ vor die Urerfahrung legt, und einer aus Glaubensgeneigtheit herrührenden Unfähigkeit, diese gemischte Erfahrung zu analysieren, verlangt dringend nach einer Auflösung. Das Modell von Führertum und Gefolgschaft, von Einzigem und Gemeinschaft bietet sie. Die verkündete Botschaft muss immer wieder staunend vernommen, ihre Wirkung auf den einzelnen in verbindlichen Worten festgeschrieben werden, auf dass der Zweifel keinen Ansatz finde. Der Engel ist die Figur, mit deren Hilfe ein Unmögliches als Wirkliches festgeschrieben und der Zweifel geächtet wird. Unmöglich ist die Fusion von magischem Weltbild und modernem Lebensgefühl, unmöglich auch die denkende Rechtfertigung des Denkverbots. Andererseits liegt darin nichts besonderes. Es geschieht allenthalben im Dämmerlicht der Entscheidungen, bei denen das Individuum es vorzieht, nur mit sich selbst zu Rate zu gehen. Wer die darüberliegende Decke aus Unbehagen und Verstellung fortzieht, der erntet mehr als die unverhüllte Dankbarkeit kommender Interpreten: »ich weiss, dass ich Ihnen vor Allem verpflichtet bin, wenn ich überhaupt sehen gelernt, wenn ich einen Lebensinhalt, einen Weg und ein Ziel habe«, schreibt Gundolf am 22. August 1899 an seinen ›Meister‹.

 

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