1.

Bis auf Stefan, der sich lächelnd hatte zurückfallen lassen, waren alle überrascht, als die ersten Giebel der Hütte, in Wahrheit eine Ansammlung kleiner, zeltförmiger, auf Stelzen dem Abhang widerstehender Holzhäuschen, über der Steilböschung einer urplötzlich sich über ihren Köpfen öffnenden Lichtung sichtbar wurden: Stück für Stück, pole pole, wie Teile eines Puzzles, die sich unter den Blicken der Gruppe wie von selbst ein- und zusammenfinden.

Die erste Etappe, der Sonntagsspaziergang, ist geschafft.

Der Anblick des Lagers, die frische Luft, das Bewusstsein, tausend Meter oberhalb des Gates und seiner bürokratischen Tücken die Rucksäcke anzugreifen, um aus den feucht gewordenen, krümelbehafteten Plastiktüten die letzten Lunchreste herauszupfriemeln – wie von selbst regt sich da der Wunsch, in kurzen Hosen zu stecken und einen Ball über die Wiese zu treiben. Wetten, dass jedesmal ein und derselbe ihn aus dem tieferliegenden Gehölz zurückholen müsste? Wen es wohl träfe? Es wäre schon aufschlussreich, das zu wissen.

Die Praktiker Stefan und Werner haben sich bereits abgesetzt. Sie streben einem auffallend breiten Giebel zu, unter dem eine vergilbte, von Cola- und Limonadendosen gestützte Preistafel lockt. Edward, der Unpraktische, trottet hinterher.

Coca-Cola-Route.

Stefan allerdings greift zum Bier. Die anderen, außer Werner, der Alkohol ablehnt, folgen seinem Beispiel.

 

2.

An Bernhards roten Männerfüßen zeigen sich erste Blasen.

Edward beschließt, seine Sportschuhe in den Tiefen des pünktlich vom Träger auf der ihm zugedachten Pritsche abgestellten Sacks verschwinden zu lassen. Er mag nicht darüber reden, aber auch ihm schmerzen die Füße. Der Berg besteht auf angemessenem Schuhwerk. Der Anblick der abgetretenen, meist senkellosen Turnschuhe der nun in den unteren Hütten verschwindenden Träger verleiht dem Gedanken eine schwer auflösbare Komik.

 

3.

Den Berg haben sie kaum zu Gesicht bekommen, gestern abend nicht und heute fast nicht. Es war schon Nacht, als sie auf jenem windigen Airport landeten. Während der folgenden Fahrt verdrehten sie gelegentlich die Hälse, wenn Verdunkelungen des Sternenhimmels auf ein gebirgiges Umland schließen ließen, doch blieb der Wunsch, einen Blick zu erhaschen, ein frommer, soll heißen: erfolglos. Bei der Auffahrt zum Gate heute morgen allerdings, kurz zwischen zwei Waldstücken, grub die ruhige, von zwei Gletscherhäubchen bestrichene Kraterlinie des Kibo sich mit Messerschnitten in ihre aufgekratzten Gemüter ein, so dass sie es völlig ausreichend fanden, während des Aufstiegs ein-, zweimal unvermutet einen Teilaspekt eingerückt zu erhalten: als Ermunterung einerseits, andererseits als Merkposten, der sie daran erinnerte, welche Wegstrecke noch vor ihnen lag.

Die Südostroute, die sie gewählt hatten, weil sie keine »im eigentlichen Sinn« bergsteigerischen Schwierigkeiten bot (»diesen Berg besteigt man nicht, den begeht man«, rückte noch vor wenigen Tagen eine junge Dame Edwards Terminologie in jenem feinen belehrenden Tonfall zurecht, der mehr zitiert als verfügt, so dass Edward, angesichts so vieler Unwägbarkeiten, sich spontan »gut aufgehoben« fühlte), die Südostroute schlängelt sich in einem weiten Bogen an der Südflanke des gestreckten Sockels aufwärts, verhalten, aber stetig ansteigend, ein Weg für Einmalbesteiger ohne alpinistischen Ehrgeiz.

 

4.

Beiläufig erinnert ihn das hier an seine Besteigung – pardon: Begehung – des Mont Ventoux, die ein paar Jahre zurücklag.

Aufgebrochen war er in dem Städtchen Malaucène – einen »Ort am Fuße des Berges, nach Nordengewandt« nannte es Petrarca, obgleich das sowohl der Karte als auch dem Augenschein Hohn sprach, da es im Westen des Massivs hingebuckelt lag, ein wenig nördlich der gedachten Linie zwischen dem Observatoire und Orange, und keineswegs unmittelbar »am Fuße des Berges«, der ja schwerlich, wie man das bei Flussläufen in Rechnung stellt, seine Lage verändert haben konnte.

Über Lavendelfeldern, zwischen denen die Straße sich kurvenreich hinzog, ragte der Fuß in eine dunkel hingelagerte Wolke hinein. Dem unverwüstlichen Himmelblau der Provence, vom hiesigen nicht sehr unterschieden, verlieh der einsame Solitär eine weithin sichtbare Pointe. Ohne sie hätte es sein trostloses Einerlei gleich eingestehen müssen.

Malaucéne konnte sich seit Petrarcas Zeiten nicht sehr verändert haben.

Von dieser Reise, die ihn zusammen mit seinem vierzehnjährigen Sohn über Vaucluse und die Gorges du Verdon nach Antibes führte und in einem Hotelzimmer von Golfe-Juan ihren jähen Abbruch erlebte, bewahrt er den starken Geschmack des Scheiterns. Des Scheiterns? Wohl eher des Versagens: noch immer ist ihm unklar, ob er versagt hatte oder ob er Opfer einer Verweigerung wurde, der er nichts entgegenzusetzen vermochte. Wortlos kehrten sie nebeneinander zurück, sahen das Weiß der Alpen im Azur erglänzen und tauchten vor Basel in Aprilschauer ein, die, pünktlich und rätselhaft wie ein Meteoriteneinschlag, sie bis zur Haustür brachten, vor der sie blick- und drucklos in verschiedene Richtungen schieden.

 

5.

Wortlos betrachtet er die mächtige Holztafel, auf der neben der Warnung vor Höhenkrankheit und anderen »Unpässlichkeiten« und einem letzten Appell an Herz- und Lungenpatienten, nicht weiter vorzudringen, das lapidare Verbot prangt, Kinder unter zehn Jahren über die erreichte Höhe hinaus mitzunehmen.

Gelegentlich wechselt er die Stellung, weil eine Gruppe von rastlos bewegten, lachenden und plaudernden jungen Frauen einmal diesen, einmal jenen Teil der Bretterwand verdeckt. In leichtem Marsch haben sie heute die mittleren Gebirgshöhen, an die sie gewöhnt sind, überstiegen. Ebenso zügig gedenken sie in den kommenden Tagen die Gletscherregion eines gedachten Mont Blanc unter sich zu lassen, ohne viel Aufhebens davon zu machen.

»Oh really, indeed.«

 

6.

Begierde durchfließt ihn.

Sein Blick schweift. Was immer er aufnimmt – die Wiese, das Lager, der Rauch über den Hütten der Träger –, es stößt ihn ab, es stößt ihn vorwärts.

Es ist das Bekannte, hinter dem sich das Unbekannte verbirgt. Mit mächtigen Zeigern deutet es hinauf und warnt davor weiterzugehen.

Diese Gier weiterzugehen deklassiert die bei Gesù getroffene Verabredung, den Scherz, bei dem keinem wohl ist, auch wenn ihn eine gewisse Leichtigkeit umgibt. Neugier auf das, was kommen wird, fügt sich darin mit der unbestimmten Empfindung zusammen, das Vorhandene sei ohnedies nicht zu halten, es stürze auf und davon, egal, an welcher Stelle man sich ihm zuwende.

Aber wenn es gelänge weiterzugehen, dann wäre alles gewonnen.

Deshalb also wird er den Berg begehen: aus Neugier auf das, was sich seiner Erwartung beharrlich entzieht.

Nicht die Landschaft, die er auf Fotos bestaunt hat, nicht die Muskelarbeit, die sich in Grenzen halten wird: nein, das ist es nicht.

Wenn er sich’s überlegt: ihn zieht – die dünne Luft.

 

7.

Der Rauch, der von den Hütten der Träger aufstieg, erinnerte sie daran, dass der Tag – dieser, wie Stefan befand, große Tag – in ein paar Stunden abrupt zu Ende ging.

Mit einem Satz sprang Bernhard auf seine frisch verpflasterten Füße, allen zum Zeichen, dass sie das heutige Pensum noch nicht ganz erfüllt hatten.

Hinter den im Freien aufgestellten, gegen die Hütten etwas zurückgesetzten steinernen Waschtrögen und den auf einer bröckelnden Betonplatte zusammengedrängten Dusch- und Toilettenhäuschen entdeckten sie unter hohen Bäumen den Pfad, auf dem sie am nächsten Morgen ausschreiten würden – ausgeruht und abgefüllt mit frischem, vorsichtshalber keimfrei gemachtem Quellwasser.

In den Ästen turnte eine Affenfamilie und posierte fürs Album: Vater mit Sohn, Mutter mit Tochter, Sohn mit Mutter mit Tochter.

Ab unters Laub.

Kaum liegen die Objektive frei, vermehren sich die Objekte im Handumdrehen: ein Schmetterlingspaar, eine Echse, zwei Rotbrustglanzköpfchen, zur Familie der Nektarvögel gehörig, ein Baumriese hier, eine Orchideenblüte da, ein Grasbüschel-Stilleben am Rand eines Tümpels, und, glucksend und meckernd, immer wieder die nachrückende Affenmeute. Beinahe übersehen sie das morsche Schild, das linkerhand den Weg zu einem verschwiegenen Krater weist: durch Fels und wirres Gehölz steil aufwärts, bis unvermutet ein schwarzer Hang klafft, den sie zwischen verkohltem und schwelendem Gehölz überqueren, sichernde Blicke in die Runde werfend, aus Angst, vor oder hinter ihnen könnte sich unvermittelt die Feuerwand erheben.

Der Kraterrand öffnete den Blick in eine kleine, annähernd kreisrunde, mit Buschwerk und vereinzelten Baumgruppen unregelmäßig überzogene Senke.

Sie umrundeten sie und konnten den Blick weit hinabschweifen lassen.

Vor ihnen lag eine hügelige Regenwaldlandschaft, geteilt durch einen mäandernden Fluss, der sich linkerhand zu einem blaustichigen See verdickte; an zwei, drei Stellen schmuggelte sich eine menschliche Siedlung ins Bild. Zur Rechten, etwas unterhalb ihres Standorts, zog dichter Qualm über den Hang.

 

8.

Das Feuer frisst den Hang.

Die anderen: mit gezückten Ferngläsern Landschaft abweidend. Rot, wie entzündet glimmen die Objektive.

Edward: murmelnd, in Zitaten vergraben.

Das Feuer der Leidenschaft verzehrt den Hang zum Guten, welcher steil und dornenreich ist und deshalb selten auf Taten zählen kann.

Ganz schöner Schwachsinn.

Als das Gute sich in einen fauligen Leichnam verwandelte, da war die Begierde zur Stelle und erhob ihre Ansprüche. Und widerspreche, wer will: Sie gewann den Prozess... den Prozess... schöne Begierde!

So wird es sein.

Wäre es anders, er brütete nicht hier oben, sondern reiste mäßig erwartungsvoll im Intercityabteil zweiter Klasse jener abgehobenen Straßenbahn-Stunde entgegen, für die er sich dieses Mal die letzten glorreichen Sätze von Epiktets Encheiridion aufgespart hätte, einsamer Leser, hin- und hergeworfen zwischen Pärchen in ranziger Lederkluft und abgewetzten Billigjeans, attackiert von den Tabakschwaden des stark aus dem Leim gegangenen Frührentners, der seine Arschbacken umsichtig auf zwei der eng nebeneinander angeschraubten, menschlicher Anatomie peinlich nachempfundenen Hartschalensitze zur vorletzten Ruhe bettet, während draußen die Silhouette des Nationaltheaters vorbeiruckelt und SachbearbeiterInnen verschiedener Profession unter buntfleckigen Regenschirmen mit sportlich festem Schritt auf das Leichtmetallportal zuhalten, hinter dem das schimmernde Reich der Garderobenfrauen sich auftut.

»Africa is great«, improvisiert er tapfer und hofft auf Zuspruch.

Trotzdem fühlt er sich ertappt.

 

9.

Gegen neunzehn Uhr verschwindet die Sonne ebenso eilig aus ihrem Gesichtskreis, wie sie am nächsten Morgen über der Flanke des benachbarten Berges aufsteigen wird.

Die von Solarstrom befeuerten, über das Lager verteilten Lämpchen glimmen noch eine Stunde, dann ist Schluss.

Im Schein der vorsorglich mitgenommenen Stirnlampen stolpern Edward, Werner und Stefan durch die offene Tür ihrer Hütte: da liegt inmitten des Kegelwirrwarrs ungebeten, schnarchend und vital zuunterst Tom, der reif gewordene Student, Befahrer der Meere und Länder, die Bräune seines Gesichts ein wenig ins Stumpfgrau entglitten, kein Wunder bei dieser Beleuchtung.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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