1.

Stefan: Nein, das kann man so nicht sagen.

Edward: Natürlich kann man das so nicht sagen. Aber wenn man es nun einmal versuchsweise so ausdrücken wollte, dann wäre die Angst, die er den anderen vorspielt, ein Abgrund an Lust.

Wolfgang: Ausgeschlossen. Der spielt nicht.

Stefan: Da wäre ich nicht so sicher. Er spielt mit vollem Einsatz –

Edward: – also doch sozusagen unter Einsatz seines Lebens...

Bernhard: Ach, ein Hasardeur? Sach bloß. Das wäre ja Nummer zwei.

Wolfgang: Hört hört. Er hatte schon einen.

Stefan: Wie war der erste?

Werner: Tata.

Bernhard: Nimm dich zusammen. Angenehm, wirklich angenehm.

Stefan: Sprich dich aus.

Werner: Das stand zu befürchten.

Stefan: Fürchte dich ruhig.

Bernhard: Ich kann’s auch lassen.

Wolfgang: Jetzt nicht mehr. Heraus mit der Sprache. Wir wollen alles wissen.

Werner: Siehst du? Da liegt der Fehler.

Stefan: Schön, dass du’s zugibst. Aber nun, lieber Bernhard, fahr bitte fort im Schmelz deiner Rüde... Rede. Was war dran an dem Mann?

Bernhard (nach ganz ganz langem Nachdenken): Das ist schwer zu sagen.

Werner: Davon gehen wir aus.

Bernhard: Versprich dir nicht zu viel.

Werner: Keine Versprecher!

Bernhard (bedächtig): Vom rein menschlichen Standpunkt betrachtet einerseits sowohl... andererseits... als dann auch wieder nicht.

Stefan (erasmoid: Ja was haben wir denn da? Deine-Rede-sei-ja-ja-nein-nein. Sprich, Sprecher, was spricht dein Gewissen?

Bernhard: Mein Gewissen spricht lauter.

Werner: Stell’s leiser. Zur Sache!

Bernhard: Also, wenn ihr mich drängt. (Fuchtelt furchtbar.) Aber den Abgang, den hat er vergeigt –

Werner: Ach. Hatte er einen?

Edward: Einen großen wahrscheinlich. Du hörst doch: vergeigt.

Werner: Wieso, er hat sich doch gerade beklagt.

Stefan: Könnt ihr den Mann nicht ausreden lassen?

Werner: Themenwechsel!

Edward: Aber ja doch. Was wären wir ohne. Immer bei der Sache. Immer bei derselben. Nicht auszudenken. Nicht auszuhalten. Nicht zu halten! Nicht haltbar! Schauderhaft! Übrigens für beide Seiten.
Geschüttelt, ach! von unbekannten Fiebern,
Zitternd vor spitzen eisigen Frost-Pfeilen,

Wolfgang: Worum geht’s?

Edward: Wir sind noch im Zweifel. Agamemnon, hier wedelt einer mit seinem Leben, um uns etwas vorzumachen...

Werner ( schießt aus der Hüfte): Das gibt es nicht. Erstmal macht er sich selber was vor.

Wolfgang (heftig): Logo. Der hat es nötig, nicht wir. Spielsche sin’ das, Bodenz-Spielsche. Nix anneres. Ganz traurijer Bibikram.

Bernhard (betroffen): Das verstehe ich jetzt nicht.

Werner: Pass auf, ich erklär’s dir.

Bernhard: Aber er hat doch Fieber.

Werner: Und wie!
Gebt heisse Hände!
Gebt Herzens-Kohlenbecken!

Stefan: Das sehe ich auch so. Äußerlich fibriert er, innen zwackt ihn die Kälte.

Wolfgang: Ach du dickes Ei.

Bernhard: Da regt sich des Geschäftsmanns scharfer Argwohn: Was springt eigentlich dabei raus?

Stefan: Steck’s weg.

Wolfgang: Wieder so ein unsittlicher Antrag.

Edward: Egal. Gebt Herzens-Kohle.

Bernhard: Kenn’ ich die Firma?

Werner: Vielleicht aus der Glotze.

Stefan: Sachte, die Herrschaften. Wir sind noch nicht am Ziel. Das Eichentliche kommt noch.

Werner (würdevoll: Ganz locker bleiben. Wir sind schon da. Immer hinein ins Unbekannte. Sauft ruhig weiter!

 

2.

Stefan trübt ein. Sein Geist schwebt. Aha.

No problem. Auf und zu klappen die Lider, auf und zu. Auf und zu. Auf –

Ich bin der Paraklet.

Der Satz, sehen wir es mal so, der hat schon einen Beigeschmack von Häme.

Häme? Wieso? Aber –?

Der Geschmack geht nicht weg.

Welcher Geschmack? Kenne ich ihn?

Nimm und lies. Nimm doch endlich. Nimm! Endlich.

Na ich weiß nicht. Eine unangenehme Kälte geht von den Seiten aus, die er da aufschlägt. Zugegeben: wahllos. Aber da liegt sie vor ihm, fast nackt: Die tödliche Ironie. Sein Herz zuckt.

Sieh mal an. Sieh genau hin. Quatsch. Als ob man ihn dazu auffordern müsste.

Wunderbar diese Grazie: cum sale, cum salutate. Kürzel: C. S., The Christian Soldier, Sektion Auslese. Keine Bewegung. Nein? Aber: wie erregend das alles. Der Duft! Nicht ohne Charme, möchte man anfügen. Fügen wir es an. Nichts verständlicher, als dass Menschen an Ironiebefall sterben. Von außen oder von innen. Teils-teils: geht auch. Menschen. Auffallend zarte Blumenwesen, denen man am besten erst mal schützend den Arm um die Schultern legt. Zauberhaft.

Casper zum Beispiel. Oder doch Athanasios –?

 

3.

Die Fraktur des Krapfschen Schmökers, Neudruck 1994, sprenkelt die auffällige Erscheinung Japhez, des Brunnenbohrers, Emblem »Burnus und Hacke«. Er ist nicht allein. Er weiß sich umstellt. Umstellt?

Sieh einer an.

Hervortritt eilig der dreifältige Cham: lächelnd Cham der Lächler, mit gebogenem Mundwinkel Cham der Spötter, und dann: Cham der Kämpfer, Black Warrior, auf Schild und Kalaschnikow gestützt, relativ finster blickend.

Die Frage lautet natürlich: Welcher ist der rechte? Stefan weiß Bescheid, er hebt den Finger: Wer als letzter übrigbleibt.

Setzen.

 

4.

Eins ist sicher.

All diese Stanleys, Livingstones, Rebmanns, Krapfs, Müllers, Heuglins, Maltzahns, Barths, Bartels, Mostrichts, Leberechts, Immerrechts – spuck’s endlich aus! –: sie alle, alle, sie waren –

 – der Paraklet.

 

5.

Aber das muss man doch glatt hinausschreien, selbstverständlich, kein Mensch kann da an sich halten, wo bleibt der Schriftsteller?

Es ist Zeit, wisch ab die Träne Steff, hebe das Auge, höher, ein wenig noch, wenn ich bitten darf –:

Und wirklich sieht er alles, ganz wie im Kintopp.

Gib zu, auch dies ist ein Teil deiner Psyche.

Die Psyche erschauert, und die Handflächen... gut gut.

Waldbrände lodern. Die Wasserstelle versinkt. Der Schatten des Bösen, länderverdunkelnd, erschlägt Kontinente.

Steff, jetzt nimm dich zusammen. Du wirst Zeugnis ablegen müssen, also schau dir alles genau an. Eis gibt es später. Auch Konfekt, meinetwegen. Kuschel dich zusammen, dann siehst du besser. Was dort so kosmisch glüht, wird dann wohl das Auge sein. Das Auge des Allochthonen. Elektronischer Humbug, bestimmt brandgefährlich. Vorteil: schläft nie. Zieht Informationen sozusagen am laufenden Band, aber das wäre ein eher veraltetes Bild. Steff, was du hier siehst, ist praktisch der Datenstrom... Hieß gelegentlich anders, ich weiß, egal. Stream of consciousness? Ganz daneben. Was wirklich vorgeht, das filtern am Ende ein paar gesichtslose Sesselfurzer heraus – sehr richtig! müsste öfter gesagt werden! –, Leute wie du und ich, aber das ist nicht zu vergleichen. Einmal im Dienst, hantieren sie mit Strategemen von Ausmaßen, die ihnen privat völlig abgehen. Schau schau: elastische, steil aufragende und tief hinunterreichende Fühler spielen in alle Richtungen der Rose, behäbig knüpft das Böse sein Netz, immer dichter, glänzender, unzerreißbarer. Ist die Menschheit zu retten?

Am besten erst mal, keine Frage,
bekämpfen wir die Virenplage.

Aber nichts unter der Sonne währet ewig, spricht der Prediger.Und so bemerkt man denn, wenn der grässliche Höhepunkt naht, nichts weiter als... Es lebe die Notdurft.

 

6.

Im Büßergewand des Nichts-als naht die Stunde. Naht? Ewiges Heute an der Nahtstelle zweier Welten, ewiges Wir, Scherbengericht. Was spricht schon dagegen, das Undenkbare zu denken? »Denker des Undenkbaren«: ein Titel, unausdenkbar. Wer den verliehe, die Kandidaten würden sich die Hacken abtreten. Denken? Ach was. Erkennen! Wirklichkeit! Der klassische Dreischritt. Magische Vesper. Wir werden das Kind schon schaukeln. Kind, Kind, lauernder Einfall, du sollst deine Chance bekommen. Vielleicht sehen kommende Generationen in uns den Messias. Warum nicht vorgreifen? Das Undenkbare andenken... es beginnt im Gefühl, genauer gesagt, in der Magengrube, strahlt dann weiter aus. Komisch, wie? So wenig – ach nichts, gar nichts strahlt von uns aus. Aber wäre das nicht schon ein Zeichen? Klein? Groß? Wer setzt solche Zeichen überhaupt?

Kein’ Schimmer.

 

7.

Die Schlieren, von den auf- und abhüpfenden Lichtpunkten der Schwärze eingefügt – noch immer ist es, der Uhrzeit nach, früher Abend, so dass sie als Anzeige der Nacht weiterhin ausfällt –, verwirren sich in Edwards Gehirn: zu geschwächt, um sie zu klaren Konturen zu zwingen, erbost ihn das wabernde Gewirr auf dem Gang zur Hütte, der mehr einem Kraxeln zwischen den im Schutz der Dunkelheit mächtig aufgeschossenen Lavabrocken gleicht. Dass sich hinter den Stirnlampen keinerlei Stirn, geschweige denn irgendein Kopf zu erkennen gibt, verstört ihn weniger, trägt aber zur Anspannung bei. Sein Gefühl sagt ihm, er sei draußen – an der »frischen Luft«, wie man zuhause sagt. Aber ebenso ist er drinnen: eingewickelt in diese schwarze Kutte, die seinen Körper wegschließt und seine unklaren irrlichternden Gedanken wie eine allzu nahe Projektionsfläche schmerzhaft widerspiegelt.

 

8.

Der Fleiß entsteht auf zwei ganz verschiedene Arten. Und? Wo bleibt die dritte? Denunziant! – Rebmann jedenfalls – damit findet Stefan, der einen Augenblick zur Seite getreten ist, um sein Wasser abzuschlagen, zu der Hoffnung zurück, die ihn seit dem ersten Gipfelbesuch in jenen heimlichen Stunden beflügelt, in denen er sich den Menschheitsfragen näher fühlt –, Rebmann hatte, wenn schon kein Zeichen gesetzt, so doch einen Wink gegeben: eine unerfüllt durch die Zeiten vagabundierende Verheißung geht von ihm aus. Daran muss man anknüpfen.

 

9.

Tot liegt die Hütte, tot und verschlossen.

Dem anfänglich leisen, später kraftvollen Klopfen antwortet erst nichts, dann ein scharrendes, zwei- oder dreimal ganz nah klingendes, dann wieder sich entfernendes Geräusch. Es dauert eine Weile, bis das im Inneren lichtlos tätige Elfenwesen die Matratzen weggeräumt hat, mit denen es Tür und Stirnwand gegen die beißende Kälte abzudichten versuchte. Der eindringende Schein der Stirnlampen huscht über die Halbtoten, die daliegen, als habe der Vorgang der Verpuppung bereits eingesetzt und werde in wenigen Stunden erste sichtbare Resultate zeitigen.

Die sächsischen Gospelsängerinnen sind gegangen, nicht ohne in olfaktorischer Hinsicht ganze Arbeit geleistet zu haben. Der Krankengeruch hat im Innern der Hütte eine zweite errichtet, nicht weniger stabil als die erste, mit beweglichen Höhlungen für die abgekämpften Körper, die hierhin und dorthin tappen, in erfingerten Rucksäcken wühlen, brettharte Matratzen zurechtschieben, mit vorsichtigem Nachdruck in den Reißverschlüssen der Schlafsäcke verhakten Bergsteigersocken zur Hilfe kommen, durch ein, zwei mächtige Atemstöße bekunden, dass sie eine vorerst befriedigende Ausgangslage für die Nachtruhe gefunden haben. Schon mischen sich erste knarrende Schnarchlaute in das vom Gehör zu bewältigende Pensum.

Werner, der an der Schwelle innehielt, um den anderen den Vortritt zu lassen, fühlt den Rücken seiner Hand sachte berührt und im nächsten Moment von zwei Fingern umspannt. Mit sanftem Druck lenken sie ihn zurück ins Freie. »Ich weiß noch nicht einmal, wo die Klos sind«, flüstert die Stimme an seinem Ohr, während Anorak an Anorak schabt, »können Sie mich hinbringen?«

»Schalten Sie die Stirnlampe ein. Ich führe sie.« Geblendet nimmt er die Lampe aus der unschlüssig in der Bewegung verharrenden Hand und senkt, sich vortastend, das elastische Halteband über einen glatten Scheitel, bis er inmitten der Haarflut den zweideutigen Widerstand der Ohrmuscheln spürt. »Hier geht’s lang.«

Rasch merkt er, es reicht nicht voranzugehen, da sie sich zwischen den Felsen immer aufs neue versteigt. Die Toiletten, zwei schräg gegeneinander geneigte Bretterbuden, liegen inmitten der Hütten auf einem freien Platz, tagsüber nur wenige Schritte entfernt, doch die Dunkelheit und die mangelnde Ortskenntnis seiner Begleiterin lassen die Entfernungen wachsen.

Er überlegt, ob er ihr nicht den Arm bieten soll. Im selben Augenblick knickt er auf dem tückischen Untergrund weg und wirft, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, eine Hand blind in die Luft, derweil die andere, weniger beaufsichtigte, instinktiv die Nähe des Bodens sucht. Die ex nihilo einsetzende Verrenkung gibt seinen Gedanken eine neue Richtung. »Wir sollten mehr nach links gehen, hier geraten wir ins Gelände«, äußert er in einem umsichtigen Tonfall, den er sonst für Kunden bereithält, deren Aufmerksamkeit ihm durch ein Angebot der Konkurrenz allzusehr abgelenkt scheint. Der nach rechts abgedriftete, in einsamer Höhe vibrierende Leuchtturm zeichnet eine hektische Kurve an die nächtliche Schiefertafel. Unaufhaltsam rast der batteriegespeiste Strahl heran und wirft tausend Funken in Werners müdes, nahezu wehrloses Gesicht. Mit gesenktem Kopf geht er gegen die Quelle des Übels vor, klaubt den Nachtmahr von seinem Stein und wird – ziemlich wahllos, wie es ihm vorkommt – von zwei Armen gepackt, die nun nicht mehr loslassen: so humpeln sie beide, ein aus Rascheln und Licht zusammengeflicktes Doppelwesen, schweigend in die Senke hinab.

 

10.

Nein, da hinein gehe sie nicht, wiederholte sie nun schon ein zweites Mal und kurz entschlossen –

– während er sich anschickt, aufkeimendem Unmut Zugang zu seinem Arsenal allzeit bereiter Scharfzüngigkeiten zu gewähren, löscht sie kurz entschlossen und bereits in stürmischer Abwärtsbewegung das Licht ihrer Stirnlampe.

Werner, dem der Anblick der Bretterbude einen Anflug von Übelkeit bereitete, fühlt die Augen der Nacht dutzendfach auf ihre Gruppe gerichtet: aufrecht er, warm durchrieselt in seinem erbarmungslos raschelnden Anorak, zu seinen Füßen, auf dem bleichen Kackstein hockend, die Unbekannte, beide nur einen kurzen Steinwurf entfernt von drei, vier Hütten, zwischen deren Brettern fingerbreite Ritzen der flutenden Bewegung der Luft und des Raumes Einlass in jegliches Innere gewähren. Hört er nicht den stoßweisen Atem der Liegenden? Vielleicht, vielleicht nicht. Vielleicht halten sie jetzt alle gerade den Atem an, um zu ergründen, was da draußen vorgeht.

Langsam, die vor ihm liegenden Felsbrocken mit dem Gehör ertastend, entfernt er sich in die vollkommene Schwärze hinein, an welcher der Anprall der Sinne ein prasselndes Feuerwerk entzündet. Die Lampe hat er ausgeschaltet, ob aus Diskretion oder aus Furcht, ist ihm in diesem Augenblick nicht gegenwärtig.

Er merkt am Zurückweichen der Felsen, dass er den Weg erreicht hat, der sich zwischen den Hütten hindurch bergwärts schlängelt. Am liebsten würde er sich hinsetzen, doch ein unbestimmter Impuls hält ihn davon ab. Er weiß, dass die schmalgiebeligen Bergsteigerfutterale jetzt hinter ihm liegen, und wenn er genau hin- oder doch eher in sich hineinsieht, dann kann er, ganz schwach, rechts vor sich die breitere Silhouette einer der barackenartigen Hütten erkennen, in denen die Guides und Porters die Nacht verbringen.

Er nimmt sie wahr, weil er überzeugt ist, sie vor sich zu haben. Und wirklich, sie schiebt sich vor einen Nachthimmel, dessen Anblick der Aufruhr der Sinne ihm bisher verborgen hat. Nun erkennt er auch, langsam den Blick hebend, den Grund der Finsternis, die auf ihnen lastet. Der Hang mit seinen zwischen Felsbrocken verstreuten Hütten liegt im übermächtig sich auftürmenden Schatten des Berges, der mit seiner Spitze geradewegs ins nördliche Zentrum des Sternenhimmels vorstößt, eine Zone, in der sich der eisige Weltraum und von fern erahnte Gletscherbizarrerien ein feuriges, wenngleich nicht ganz reelles Stelldichein geben.

Er spürt, es ist Zeit. Ihn fröstelt. Wer wärmt mich, wer liebt mich noch? Hier draußen dürften die Chancen jedenfalls gegen Null tendieren. Gebt heisse Hände! Gütiger Himmel, wenn das immer so einfach wäre. In seinem zutiefst aufgeräumten Inneren macht sich eine Regung bemerkbar, die er sich selbst gegenüber als Schauder, einem anderen gegenüber als einen Anflug von Unbehagen bezeichnen würde – vorausgesetzt immer, eine der Parteien käme in die Situation, ihn danach zu fragen. Da er es ablehnt, mit sich allein zu sein und Selbstgespräche zu führen, lässt er die Differenz auf sich beruhen. Sie scheint ihm nicht wesentlich zu sein. Immerhin ist ihm die Regung geläufig, er kennt sie seit Jahren und manchmal kann er den Eindruck nicht abschütteln, dass sie Fortschritte macht, dass sie heute runder, sozusagen geschliffener auf der Bühne erscheint als noch vor wenigen Jahren.

Hat sie nicht recht? Es ist die Kälte, die ihm zu schaffen macht. Nicht diejenige, gegen die ihn sein Anorak einigermaßen zuverlässig abdichtet, obwohl er sich, wie er so dasteht, im Schatten der Sterne und wenige Meter vom Rand der Welt entfernt, hin und wieder eines kurzen Bebens nicht erwehren kann. Es ist eine abstrakte Kälte, gewissermaßen selbstfabriziert, ein Gedanke, nicht mehr, ein wiederkehrender Einfall, einer, der Zeit hat, der lange Perioden verstreichen lässt, ohne Laut zu geben. Physikalische Formeln langweilen ihn – wahrscheinlich ein von der Schulzeit herrührender Defekt. Für ihn ist das Weltall vor allem eines: von überallher andrängende, gefährlich in sich verharrende, unter Ausnützung jeder Gelegenheit hervorstürzende und absolut tödliche Kälte. Ein Aperçu, nichts weiter, das er manchmal in Gesprächen zum besten gibt (nicht so gespreizt wie Edward vorhin, der stets übertreibt) und dessen Wirkung sich mit derselben Zuverlässigkeit einstellt wie der kernige Stundenschlag der von der Großmutter väterlicherseits ererbten Standuhr.

Hier oben, mit sich allein und gegen jede Form von Selbstgespräch allergisch, ist er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Jene da drüben im Dunkeln hockende Gestalt zum Beispiel, er weiß es instinktiv, erwiese sich als ganz und gar immun gegen den Vorschlag, die Welt aus diesem Gesichtswinkel zu betrachten. Ihr Blick, starr auf den zum Patienten verkümmerten Gefährten gerichtet, würde durch ihn hindurchgehen wie durch einen leichten Stoff, der just for fun den nackten Zustand der Dinge verschleiert. Nicht, dass er ihr ein Intelligenzproblem unterstellen möchte, davon ist er weit entfernt – schließlich hat er noch keine drei Sätze mit ihr gewechselt –, nein, der Gedanke würde gar nicht an sie herankommen. Sie würde ihn abwehren wie eine lästig surrende Fliege, und keine Macht der Welt würde sie bereden können, ihn als ihren anzunehmen.

Warum auch? Andererseits: warum nicht? Ein Gedanke kann einschlagen wie ein Blitz, er kann abtropfen, ohne mehr als die Empfindung zu hinterlassen, nass geworden zu sein, er kann aber auch einsickern, still und beständig, außerhalb des Gesichtsfeldes, das unsere ständige Aufmerksamkeit erheischt, so dass sich erst nach Monaten oder vielleicht Jahren überschlagen lässt, was er angerichtet hat. Dieser hier scheint, soweit Werner das überblickt, harmlos zu sein, er rollt hierhin und dahin, fast eine Quecksilberkugel, und sieht einem rund und funkelnd ins Gesicht.

Aber da liegt schon der Irrtum. Wer sagt ihm denn, dass diese Kugel in Zeiten, in denen man sie nicht sieht, harmlos in einer Vertiefung seines Gedächtnisses ruht, um im geeigneten Augenblick wieder aufzuspringen und dorthin zu rollen, wo sie sieht und gesehen wird? Wer sagt, dass sie sich in den Zeiten der Ruhe nicht in winzige, aber hochgefährliche Partikel zerteilt, in denen er die wahren Eindringlinge erkennen müsste, wenn er ein Organ dafür besäße?

Du höhnisch Auge, das mich aus Dunklem anblickt: So hat er sich das nicht vorgestellt, so nicht. Wenn es aber so wäre, dann wäre ja dieser simple Gedanke eine Waffe gewesen, die er ziellos – ganz sicher ziellos? – auf seine Umgebung gerichtet hätte, unbekümmert um die Frage, wem er das Gift injizierte. Schlimmer, er hätte es sich selbst zugeführt, ohne es zu wollen oder auch nur zu bemerken. Schließlich ist die Bedrohung, von der er spricht, ganz und gar abstrakt, sie existiert überhaupt nicht außerhalb irgendwelcher Theorien, jedenfalls dann, wenn man die Handvoll Raumfahrer beiseitelässt, die mit ihr Erfahrungen sammeln durften.

Gerade die sind vermutlich am besten gegen sie geschützt: Sie wissen, welche Vorkehrungen getroffen werden müssen, bevor es zum Kontakt kommen darf, um ihn zu überleben.

Nein, diese Kälte existiert nur in seinem Denken. Sie ist Gedanke, Nichts-als-Fähigkeit, wiederzukehren, sich einzufressen, sich an ihm, der ihn denkt, zu mästen und in Augenblicken wie diesem den Boden unter den Füßen... Aber was ist das bloß für ein Geschwätz? Er schüttelt sich, der Anorak rauscht, ein Krächzen entringt... nein danke, draußen, im Dunkeln, antwortet, verblüffend synchron, ein Geräusch, das gehört zu haben sein höfliches Ohr sich einen Augenblick weigert.

 

11.

Ein Blitz, eine Eruption, vielleicht ein Erbrechen: Ha! schon viel zu nahe! Und wenn schon. Nur ein Gedanke. Was würde geschehen, wenn er ihn eines Tages leer anträfe? Würde er dann von ihm ausgefüllt werden?

– Vom Scheitel bis zur Sohle?

– Vom Hirn bis zu den Hoden?

Ein einziger Gedanke, Nichts-als-Gedanke, der die Augen aufschlägt, in ihm, durch ihn, an seiner statt. Was wird er sehen? Zweifellos dies: Nacht, Schwärze, darin tanzend der gleißende Mückenschwarm. (Na endlich, fast zu lang hat es schon gedauert. Die progressive Zerrüttung, deretwegen sie hier heraufgekommen sind, sie beginnt zu wirken. Heute mittag hat er sie erstmals gespürt, als er beim Steigen danebentrat und es in ihm aufschoss: »Mich – willst du? Mich?« Warum dann weiter? Denn weiter geht es, auch jetzt, er weiß.)

Leer, wie er sich fühlt, unendlich leer (o diese Befriedigung!), nussknackerhaft bereit, die Kälte zu denken, die jetzt nicht mehr schlangengleich kriecht, sondern wie ein zweiter Schatten auf ihm liegt – ihre Bereitschaft, mit der Phantasie mitzugehen, ist so unendlich wie die Leere, die sie erbrütet –, ein Schatten von etwas, eine Ferne, eine Abwesenheit, die ihn milde durchströmt und obendrein wärmt, – bricht es aus ihm, bricht, heraus, der innere Kerl rüttelt an seinen Gittern, lacht, und wirklich sieht man jetzt hier und da hinter Türen und Ritzen die ersten Taschenlampen angehen.

 

12.

Auch die fremde Frau hat ein Innenleben. Im Augenblick wäre ihr lieber, sie hätte keines. Während sie den Slip über die angespannten Gesäßmuskeln zieht, sich langsam aufrichtet, die Jeans unter dem Anorak ordnet, hakt sie den Begleiter, dessen absolut blödsinniges Gelächter da vorne gerade das schwarze Nichts in einen mittelmäßig belebten Dorfplatz verwandelt, resigniert als einen der wichtigtuerischen Idioten ab, von denen ihr auf dieser Reise schon allzu viele begegnet sind. Flüchtig huscht sein Bild, wie sie es vom Nachmittag her verwahrt, durch ihre Vorstellung, dann gibt sie sich einen Ruck und knipst die Stirnlampe an.

 

13.

Gerade erst war Edward in seinem Schlafsack zur Ruhe gekommen, als sie ihm bereits unerträglich vorkam. Er spannte das glatte, aber nicht unangenehme Material mit den Ellbogen, bis er das Zugstück des Reißverschlusses zwischen den Fingern hielt und ihn langsam, ein wenig unbeholfen, aufziehen konnte. Er hob seine Füße mit den Bergsteigersocken aus der schlaffen Kuhle. War es nicht ein bedächtiges Streicheln, mit dem sie sich von ihnen verabschiedete und in sich zusammensackte?

Er schwang die Beine über den Pritschenrand. Innerlich fluchte er über das Knacken und Rascheln, das seine behutsame Auferstehung begleitete. Weggeschlossen wider alle Lebensregung kam er sich auf dem Lager vor, dessen Breite gerade ausreichte, um auf der einen Seite das Gefühl künstlicher Beengung, auf der anderen den Eindruck nicht ungefährlicher Tiefe zu vermitteln, die sich ins Bodenlose verlor, sobald er die Augen schloss.

Im Dunkeln zu sitzen erschien ihm angenehm. Er umklammerte den Lattenrost, drückte die Arme durch und spannte den Rücken. Die Brust ein wenig hohl, wünschte er das Ende der Nacht oder ihren Anfang herbei, ohne sich über den Unterschied Rechenschaft abzulegen.

 

14.

Es hätte auch keinen Zweck, denn der Weg ins Innere ist ihm versperrt. Der flutende Gedankenreichtum, auf den er ein Anrecht zu besitzen glaubt, staute sich an einer Grenze, die näher ins Auge zu fassen ihm die Finsternis verbot. Nicht jene durchdringende Finsternis, die es nicht zuließ, dass er auch nur den Schattenriss der eigenen Hand wahrnahm, sie nicht, wohl aber eine, die unterderhand den Verdacht zur Gewissheit machte, dass er hier fehl am Platz sei. Wie jemand, der einen Raum durch eine Drehtür zu betreten im Begriff ist und noch in der Bewegung den Irrtum erkennt, so wartet er darauf, dass der Schwung, der ihn hierhergetragen hat, ihn bei gehöriger Passivität weiter- und in menschlichere Lagen zurückbefördern werde.

Als die Hüttentür aufklappt und jene beiden Gestalten einlässt, die sich im Augenblick des Eintretens der Stirnlampen entledigen, ihren Strahl den kurzen Weg zu den Kojen zurücklegen lassen und dann geräuschlos kappen, fühlt er sich beinahe ertappt. Das stumme Einverständnis, das er zwischen ihnen zu spüren glaubt – würde ihn jemand fragen, warum, so müsste er wohl passen –, das Motiv der Heimkehr, wenngleich nur für eine Nacht, das in ihrer Art, sich zu bewegen, die Plätze aufzusuchen und sogar zu schweigen mitschwingt, dies alles enthält, als Spurenelement, einen Vorwurf an ihn. Keine Frage, auch er ist innerlich angekommen, aber auf eine Weise, die ihn bedrückt. Er ist nicht im Rhythmus und das bedeutet, angesichts dessen, was noch vor ihnen liegt, nichts Gutes.

 

15.

Er holt die Taschenlampe heraus und sieht auf die Uhr. Der Abend ist noch nicht weit fortgeschritten. Unten wäre es an der Zeit, die Serviette auf den Tisch zu werfen, sich zurückzulehnen und die Worte spazierenzuführen. Er zwingt sich, auf die Atemzüge der anderen zu achten. Er hat herausgefunden, dass immer nur einer von ihnen durch kräftige Atemzüge und das obligate Blasen zu Protokoll gibt, dass er die Schwelle des Schlafs passiert hat. Die anderen sind kaum zu hören. Offenbar lauschen auch sie auf diese Stimme aus dem Jenseits, die nichts kundgibt, aber in ihrer ruhenden Insolenz eine nicht zu unterschätzende Offenbarung darstellt.

Er bildet sich ein, während der ganzen Zeit hätten die Patienten nicht einen Laut von sich gegeben. Es ist ein zweifelhaftes Unterfangen, die Herkunft der Geräusche im Dunkeln unterscheiden zu wollen. Umso befremdlicher erscheint ihm die Gewissheit, die ihn in dieser Richtung beseelt. Wann immer er an die beiden denkt, sieht er die bis an die Nasenspitzen herangezogenen Schlafsäcke mit den darübergebreiteten Jacken und spürt den starren, entgleitenden Blick. Der Blick erlaubt keinen Laut, er gehört dem Schweigen. Wo die beiden sich aufhalten, gibt es nichts zu verhandeln oder durch wirkliche oder eingebildete Schnarchtöne zu bekräftigen. Strenggenommen halten sie sich nirgendwo auf. Die Aufmerksamkeit, von der ihr Blick berichtet – gesammelt, ohne ablenkende Momente, nicht einmal ansatzweise geschwächt oder unterbrochen durch das Bedürfnis, einen Scherz zu machen oder sich zu räuspern –, ist verteilt, sie gilt dem Fluss eines Geschehens, das sich dem Betrachter verbirgt. Aber mehr noch ist sie dieser Fluss, an seiner Oberfläche gelöst und von seinem Dahintreiben ununterscheidbar.

 

16.

Er war ein wenig zurückgesunken; mit einem Ruck richtet er sich auf. Ein neuer Schnarcher ist in den Ring gestiegen. Sehnsüchtig erwartet von der Runde der Schweigenden, befeuert von einer schwer zu bezähmenden Ungeduld, nimmt er den ungleichen Kampf mit der im Dunkeln lauernden Macht auf. Ein kurzer doppelter Anriss, fast eine Synkope, ein Largo, das in ein steil abstürzendes Fortissimo mündet, dann die vibrierende Stille, in welcher der unsichtbare Klangkörper, der sich keiner der Edward wohlvertrauten Personen zuordnen lässt, seinen letzten Trumpf ausspielt, die reine Gegenwart: Geschöpf der Nacht, der Finsternis entströmter Titan, erschaffen, um sich im Kampf gegen den schweigsamen Dämon zu verausgaben und zu erschöpfen. Der schwächere Vorgänger ist verstummt, schlagartig, als habe er sogleich die Nutzlosigkeit seines Tuns begriffen, so dass kein Nebengeräusch die Darbietung beeinträchtigt, in der es gewiss um Leben und Tod geht. Jedenfalls ist das der Eindruck Edwards, der nur hier und da einen berggehärteten Schenkel lüpft, wenn die hölzerne Kante ins Fleisch zu schneiden beginnt.

 

17.

Wie immer jene dunkle Macht im Innern beschaffen sein mag, ihre wirksamste Manifestation ist die aus dem Takt geratene, Schleifen bildende Zeit, die sie mit sanfter, aber aus dem Grund wirksamer und jeden willentlichen Widerstand abschnürender Gewalt in die Horizontale drückt. Eine Zeit, die nicht vergeht, bekommt etwas Widersinniges: »die Minuten schleichen dahin«, mit gesenktem Kopf wahrscheinlich, da sie vom Krankenlager der großen Mutter kommen. Deutlich bemerkt Edward ihre Scheitel, es sind reizende Köpfchen dabei, Zöpfe sogar. Gern sähe er die Gesichtchen, aber das ist unmöglich. Bloß Ohrmuscheln ahnt er ab und an. Und wirklich sind sie nur für das Gehör. Sie scheinen aus ihm herauszuwachsen: Wucherungen des Hörvermögens. Auf grotesken, schwankenden und intermittierenden Bahnen bemächtigen sie sich des umgebenden Raumes. Manchmal wandert eine an seiner Wange vorbei, sie streift ihn fast, er wünscht sich, von ihr gebissen zu werden – nicht wild, nicht schmerzhaft, nur wirklich, doch gerade das ist offenkundig nicht zu erlangen. Es gibt Augenblicke, da scheinen alle mit einem Mal gegen ihn vorzudringen: Was soll er machen? Offenbar nichts, denn diese Augenblicke entstehen, um zu vergehen, sie sind schon vorbei, ehe das Gehirn sie auszuwerten beginnt, Wimpernschläge, zu denen die Zeit nur die Tusche beisteuert, mit deren Hilfe sie sich als feine schwarze Striche in seine Wahrnehmung einsenken.

 

18.

Erlahmt der Titan? Ein friedlicher, in seinen Maßen unbedeutender Mensch hat zwischen zwei Träumen einer einfachen Körperempfindung nachgegeben und sich auf die Seite gerollt: Schon versinkt der machtvolle, Abgründe beiläufig überquerende Helfer, der den Giganten herausgefordert hat und auf dem besten Wege schien, ihn zu besiegen, in jenem Spalt zwischen den Zeiten, aus dem er unvermittelt, ein zweiter Dschinni, heraufgestiegen war.

Was ist passiert?

Das von Blitzen durchfurchte hell-dunkle Panikwesen stellt keine Fragen. Es tritt an die Stelle des Fragers, es vertritt ihn in jenem Zustand, in dem der Mensch hilflos wie ein Neugeborenes unter dem Ansturm des Lichts zusammenzuckt, das einer ohne Vorwarnung über ihn ausschüttet, und sei es dadurch, dass er sich entzieht.

 

19.

Hören: geheimnisvolle Regung des Lebens, Zuckung eher, ein schmerzhafter Krampf, dem das lösende Zurückgleiten in die Stille folgt. Wieviel Unfug auch immer darüber geschrieben wurde, der reale Leser lässt es sich nicht nehmen, über diesen Brunnen gebeugt dem Raunen zu folgen, das ohne Anfang und Ende und folglich auch ohne Mitte ist. Ohne Zweifel geht die Fahrt abwärts, und niemand weiß, ob dort, wo er aufschlägt, ihn die Schlacke eines erloschenen Vulkans oder eine Blumenwiese erwartet.

Dennoch scheint es ihm sehr die Frage, ob das, was einer hört, weil er es nicht lassen kann, wirklich die Stimme des Seins genannt zu werden verdient. Schließlich ist, was er hört, nur der Wurmfortsatz seines Hörens, und hörte er nichts, so bliebe er endlos im Zweifel, ob er wirklich nichts oder nicht eher nicht hörte. Ein Nichthörender aber wüsste mit dieser Differenz nichts anzufangen, sie liegt im Hörenden, der nur als Hörer sich zum Nichthörer qualifiziert. Der Schluss, den der Leser aus dieser Sachlage zieht, klingt so einfach wie angemessen: Nur wer hört, kann nicht hören. Wer nichts hört, weil er taub ist, mag zwar an seinem Gehör zweifeln, aber nicht daran, dass Hörbares existiert. Also ist auch er ein Hörender, ein zukünftig Hörender, der nur darauf wartet, dass ihm die Welt Laut gibt. Wir, die wir Hörende sind – der reale Leser liebt solche Floskeln, die ihn dunkel mit den Enden der Welt verknüpfen, zwei links, zwei rechts –, erschaffen in aller Unschuld den Kontinent des Unerhörten, dessen, was aus allem Hören herausfällt und es von allen Seiten bedrängt, bis es, zaghaft geworden, zugibt, dass nichts weiter an ihm sei als der physikalische Trick, ungeeignet, die Tiefe der Welt zu ermessen, aber ausreichend, immerhin, um die Routen der Heringe rund um den Globus zu kartieren – was nicht gerade wenig ist.

 

20.

Edward jedenfalls, dem Fragenkönnen und Fragenwollen zurückgewonnen, fragt sich, ob es nicht doch besser sei, dem Wink der Stille zu folgen und erneut in den Schlafsack zu kriechen. Nach einigem Hampeln und Strampeln gelingt ihm dies fast ohne Mühe, und nachdem er einen weiteren Anfall von Beklemmung eher resigniert zur Kenntnis genommen als aktiv ausgelebt hat, übernimmt er, unwissend natürlich und unbewusst, den augenblicklich vakanten Part des Schnarchers.

Einer für alle, alle für einen.

 

21.

Die schwarz lackierten Fingernägel Frau Melstroems gleiten über Zahlenkolonnen. Das leise Knistern verrät den Marschtritt der Ameisen, die unter den Strahlen einer fernen, aber –enthält dieser Gedanke nicht eine ungeheure Lästerung? – auf geheimnisvolle Weise erreichbar scheinenden Sonne auf leicht gewellten, gegeneinander und übereinander geschobenen Ebenen dahinziehen. Im Innern der Sonne brechen aus einer unentzifferbaren, aber ohne Zweifel das Absolute bezeichnenden Hieroglyphe tödliche Strahlen. Von der durchscheinenden Außenhaut zurückgedämmt, schaffen sie jene Kugel aus reinem Licht, deren wunderbare, schreckliche, alles durchdringende Kraft, die selbst vor den Schattenzonen, in denen das Böse lauert, nicht Halt macht, ihre Schritte lenkt und ihre Gedanken davor bewahrt, das Andere zu denken, das sich in ihnen dem Licht entgegenstemmt und von einem Licht jenseits des Lichts fabelt, dessen man nur im Aufruhr teilhaftig wird.

 

22.

Elsa Melstroem, gewöhnt, ihre knappen Befehle mit einem leisen, fraulichen Lachen zu unterlegen – denn auch sie weiß, dass der Aufruhr, den sie seit Jahren unterhält, sich jederzeit gegen sie richten kann und im Fall des Falles sie den Horden, die sie mit dem sanften Druck ihrer Fingerkuppe dirigiert, wehrlos ausgeliefert wäre –, Elsa Melstroem, äußerlich straff und gefasst, empfindet den fremden Blick, der sich in ihr aufschlägt. Sie kann nicht behaupten, dass sie ihn nicht erwartet hätte, aber jetzt, da es geschieht, überrascht und verwirrt es sie ein wenig. Zwar ist sie daran gewöhnt, die Dinge mit den Augen anderer zu sehen – wie sonst hätte sie all die Jahre hindurch erfolgreich in vermintem Gelände operieren können –, aber dieses Wesen, sie fühlt es, kommt nicht, um zu erobern oder erobert zu werden. Wäre sie imstande, um diese Stunde noch klar zu denken, so würde sie meinen, es sei gekommen, um an ihr teilzuhaben – oder, noch besser: teilzusein.

 

23.

Edward, seines wachen Selbst ledig, findet es lustig, Elsas Fingerkuppen hierhin und dahin zu setzen und das Knistern des Papiers ein ums andere Mal zu provozieren. Es ist eine magere Lust, bereit, sich auf den geringsten Widerstand hin zurückzuziehen und jenes Etwas, das nicht länger »ich«, sondern nur noch »ah« zu sagen vermag, in seiner zugigen Bilderwerkstatt allein zu lassen. Aber noch spielt sie mit. Elsa, das reizt ihn, wäre bereit, wiederzukehren. Da liegt der Unterschied: schal ist, was schon das Mal des Verschwindens trägt. Mehr werden im Verschwinden, sich feiern, als Drohung oder Verheißung einer nebulösen Wiederkehr: da liegt der Trick.

 

24.

Es reizt ihn zum Lachen, und in der Ferne zieht das Gelächter wie ein Frühlingsgewitter vorbei. Er weiß nichts von den Röchellauten, die aus der Kehle des Schläfers dringen, der seinen Namen trägt. Wie locker und sorglos er Elsa sein darf, Elsa spielen darf (er will auch in diesem Zustand genau sein). Besonders im Oberarm, knapp über dem Ellbogen, ist die Empfindung mächtig.

 

25.

Pflicht, sagt Elsa Melstroem mit dieser leicht angerauhten, durch den Premier Cru refeminisierten Stimme, Pflicht ist ein zwingendes, zur Tat drängendes Gefühl. (Wie gut, meldet sich das dunklere Etwas, dass wir das so ausdrücken können, so, so – drängend eben und ein klein wenig von fernher zupackend...) Der Denkende denkt aber nur, und hier hört aller Spass auf, aufgrund von zwei Voraussetzungen: er hält alles für geworden und alles Gewordene für diskutierbar. (Eigentlich besagt es ja ein und dasselbe, aber das wollen wir im Augenblick nicht diskutieren. Eigentlich bekräftigt es auch nur die gängige Verwechslung von logischer und empirischer Herleitung, aber auch das wollen wir im Augenblick nicht...) Der leicht angerauhte Premier Cru jedenfalls sieht den Denkenden aller Pflichten ledig, verantwortungsfrei und -los, und damit bereits ein wenig unverantwortlich. Dann aber (Elsa Melstroem hebt den Blick unter den schweren Brauen, wobei das Kinn nach unten gleitet und jene Rundung preisgibt, die jeden Versuch, hier Anker zu werfen, von vornherein zum Scheitern verdammt), dann aber (Elsa Melstroem bedarf der strengen Miene nicht mehr, ein bübischer Zug huscht über ihre Wangen), dann aber könnte man sagen (und ernst und feierlich sagt sie es und gibt ein wenig die Allerleirauh), dass der Denkende auch keinerlei Pflicht zur Wahrheit... Versteht ihr, Freunde? Nein? Daran tut ihr recht, denn hier beginnt das Fragwürdige. Nicht denken, nein, tren-nen, das Frag-würdige er-finden (seltsames Stakkato der Nacht, das solche Worthüpfer hervorbringt): wo diese Bedeutungsumkehr gelingt, da sind wir obenauf. Übrigens sind wir Geschäftsleute. Das hier ist unser Geschäft, vielleicht unser bestes. (Letzteres sagt sie nicht mehr, aber das Etwas, das wie ein Schatten über ihrem pochenden Herzen liegt, hat schon beschlossen, sich seinen Teil abzuschneiden, koste es, was es wolle.)

 

26.

Gäbe es eine Beunruhigung durch entfernte Träume, Frau Melstroem schliefe heute nacht anders.

So bleibt es Edward vorbehalten, sich auf der harten Pritsche herumzuwerfen und dem Pfeifen des aufkommenden Windes, der durch alle Ritzen fegt, den eigenen Lockruf beizumengen.

Schlaftrunken absolviert er sein Standard-Programm, den Traum vom Traum im Traum und vom doppelbödigen Wachen.

Das ist doch wirres Zeug, grübelt er, inwendig aufgerichtet, nicht der Mühe wert, dass man die Hand dafür aufhebt:

– dass die Maschine des Denkens nicht mehr recht arbeitet, wenn einer sich beim Akt des Erkennens wirklich unverpflichtet fühlen könnte?

– dass man nicht analysieren könne, worauf man sich verpflichtet weiß? Dass man sich erst entpflichten müsse, um die Pflicht zu analysieren?

– dass man sich der Worte enthalten müsse, um Sprache zu analysieren?

– dass man sich des Enthaltens enthalten müsse, um die Enthaltung zu analysieren?

– dass man sich der Analyse enthalten müsse, um zu analysieren? Dass man sich des Denkens enthalten müsse, um Denken zu denken?

Denkbar wäre es vielleicht. Ein wenig langweilig auf die Dauer. Aber wer spricht von Dauer.

 

27.

So in Klarheit gebadet wie jetzt sah er sich selten –

da sich das Faunsgesicht mit den müden Augen über ihn beugt, die eisgraue Lockenpracht schüttelt und zum Gegenschlag ausholt: »Wahrheit sagten Sie eben? Schau an. Da haben Sie noch etwas, das uns Nachdenkern abgeht. Ein Wärzelchen, nehme ich an? In Essig baden, das hilft. Sie sind eine schöne Frau: Lachen Sie es weg. Fiat tristitia, wie die verrotteten Lateiner singen. Die Sprache der Engel. Im Ernst: ich halte es für einen Defekt, einen eher seltenen übrigens. Schön, schön. Gut versteckt, nicht angeeckt. Nur zu gern würde ich es einmal aus der Nähe besichtigen.«

Er sagt es streng und gemessen, mit gefurchter Stirn.

Klipp-klapp: er erteilt das Zeichen des Wissens, das Auf und Nieder der Brillenbügel, dem der Reibegriff an die schwer gewordenen Lider folgt.

Schlurfend entfernt er sich zwischen Felsbrocken.

 

28.

Von Avignon kommend, trifft Francesco P. am Abend des 24. April in dem verwinkelten Bergnest ein. »Also hat sich’s zugetragen im Jahre des Herrn 1336.« Ohne Übereilung begibt er sich mit seinem Begleiter – dem Bruder, wie sich gleich herausstellen wird – in den einzigen Gasthof am Ort, speist bedächtig und sparsam und geht früh zu Bett. Der Bruder bleibt bis nach Mitternacht in der Wirtsstube sitzen. Er schnackt mit dem Wirt, trinkt nicht zu knapp und albert mit den Mägden herum, bis die Wirtin sie durch ein energisches Zischen aus dem Raum weist. Auf dem gefurchten Gesicht der Wirtin erglühen je nach dem Grad der Erregung kleinere und größere Flecken. Erregt scheint sie immer zu sein. Anders der Wirt, ein schmächtiger Mann mit ruhigen Gesichtszügen, sichtlich gewohnt, die Dinge und Gespräche ihren unvermeidlichen Gang gehen zu lassen und allenfalls dann und wann verstehend einzugreifen. Im Lauf des Abends macht der junge P. geheimnisvolle Andeutungen, aus denen niemand klug werden kann, über den Zweck der Reise, die ihn und seinen Bruder hergeführt hat. Nebenbei erfährt man, der Bruder sei ein wichtiger Mann mit (für sein Alter) außergewöhnlichen Beziehungen. Auch dies ergibt sich – wie manches andere – aus diffusen, beiläufig ins Gespräch gestreuten Bemerkungen, welche die am Tisch sitzenden Bauern mit fast unmerklichem Nicken quittieren. Die Devotion der Wirtsleute steigt beträchtlich.

Am nächsten Tag bleibt Francesco unsichtbar. Gegen Abend lässt er sich eine Karaffe Wein aufs Zimmer bringen. Der Bruder hat den Gasthof in den frühen Morgenstunden verlassen und kehrt am Nachmittag mit schwerem Gepäck zurück. Danach verschwindet auch er, niemand weiß, wohin.

 

29.

Deutlich kann man das Schnarchen der Wirtsleute unterscheiden, die Hunde bewegen beiläufig ihre Schwänze im Halbschlaf. Sachte sachte schleichen die beiden Gäste den Flur entlang und aufatmend ziehen sie die leise wimmernde Tür ins Schloss. Rechterhand liegen die Ställe; Francesco unterdrückt den augenblicklich erwachten Wunsch, nach den Pferden zu sehen. Über den Feldern hinter den benachbarten Häusern glimmen erste Spuren der Dämmerung. Die feuchte Nachtluft bemächtigt sich der Lungen. Beiderseits der Tür erheben sich lautlos zwei Diener mit breiten Taschen über den Schultern. Dann und wann wirft einer argwöhnische Blicke auf den sich undeutlich im Nebel abzeichnenden Gebirgszug. Die Gruppe überquert den Hof. Vor dem Tor schließt ein Rudel Hunde zu ihnen auf. Sie drängen sich neben- und gegeneinander, ihr Keuchen und Knurren übertönt die Nachtgeräusche. Einer, auffällig durch seine Größe, hält sich abseits. In Schatten verborgen, stößt er halbmelodische Klagelaute aus. Dann wieder kommt er auf Armeslänge an die Männer heran, prüft eindringlich ihre Gesichter. Francesco bemerkt es mit Unbehagen. Einmal, als er sich gedankenlos zur Seite wendet, prallt er mit dem Gesicht fast gegen die Schnauze des Tieres, das bewegungslos auf dem sich neben ihnen hinziehenden Gemäuer kauert. Der breite Kopf, die schwammig-knochigen Züge, die scharlachrote Narbe neben der Schnauze (wohl eine Brandnarbe) und die wässrigen, in kalter Anklage starrenden Augen rühren an eine Erinnerung, die nicht deutlich wird. Einen peinvollen Augenblick lang packt Francesco der Argwohn, seine Pläne seien durchschaut, man habe von langer Hand Vorkehrungen getroffen, sie zu durchkreuzen. Das Fell des Hundes, soweit im Mondlicht erkennbar, ist schmutziggelb. Auch sieht es so aus, als mieden ihn seine schwarzglänzenden Genossen.

 

30.

Sie haben die letzten Häuser des Dorfes erreicht. Zügig bewegen sie sich ins offene Feld hinaus. Die Hunde fallen zurück. Fern sieht man die jagenden Schemen zwischen den Häusern. Pack, denkt Francesco, und mustert den Nacken des Mannes, der vor ihm geht. Pack, murmelt er. Eine Weile geistert das Wort in seinem halbwachen Gehirn, bevor es durch einen Seitenausgang entweicht. Er schwingt den Knotenstock und probt den federnden Gang. Die gemächlich ausschreitende Kolonne bringt er damit in Bedrängnis. Rasch gibt er auf. Stattdessen heftet er seinen Blick auf die Füße des Vordermanns. Die perspektivische Verkürzung, die jeder Schritt, jedes Aufheben des linken, dann wieder des rechten Fußes mit sich bringt, lässt ihn schwindeln. Nicht stark, aber stark genug, dass ihn das, was unmittelbar vor seinen Augen geschieht, immer unwahrscheinlicher dünkt. Das Wesen, das da ausschreitet – kaum mehr als ein Schatten –, verliert bei jeder Bewegung sein Gleichgewicht und erbeutet es wieder in ruhigen, fließenden Übergängen, ohne von so überraschenden Funden (jeder eines langen Nachdenkens würdig) viel Aufhebens zu machen. Eine sentimentale Regung ergreift ihn, als er daran denkt, dass sein ihm durch göttliche Gnade zugewendeter Bruder da vor ihm ausschreitet –

»Der Führer sagt, es kann Schnee geben«, schreit der, sich umdrehend, und poltert weiter.

Schnee, warum Schnee, das ist gegen die Abmachung. Einspruch. Aber matt! Schon vermag er nicht mehr so recht, sich zu folgen. Er gleicht einem Handschuh, eben noch passend, glatt bis an die Gelenke, und jetzt bereits zum Hemmnis geworden, aus dem eine Hand sich zu schälen beginnt, die in dem plötzlichen Drang nach Freiheit noch nicht viel mit sich anzufangen weiß.

 

31.

Wessen Hand es auch sei, die sich da regt und schüttelt und zu gleiten beginnt – sie entwickelt ein Selbst, ein gespaltenes Bewusstsein, das seine Abkömmlinge zurücksendet in die soeben noch bergende Hülle, die nun aber, in Fetzen verweht, keinerlei Aufenthalt mehr verspricht. Dieses Bewusstsein quillt und wabert, ohne Kontur zu gewinnen, es steigt aus eben noch selbstverständlichen und jetzt nur noch Wirrwarr bezeugenden Reden – jedenfalls hält es an diesem vielleicht täuschenden Eindruck fest, der sich nicht der Sache, sondern ihrem Entweichen verdankt –: eine brodelnde Masse, in deren Innerem sich die Verhaltung andeutet, der erste reelle Gedanke, schwer, schwer, beinahe zu träge, um für voll genommen zu werden, doch schon bereit, die Last der Welt zu schultern. »Wo bin ich?«

Schwer zu sagen. Der Wind jedenfalls heult, als wisse er mehr davon – Herr des Geländes, vom Himmel hoch (eine Dummheit, epistemologisch gesehen, aber dem sich aus seinen embryonalen Verwicklungen schälenden Bewusstsein der nächste Gedanke), aus leeren Höhen herab- und aufenthaltslos weiter hinabstürzend, ein rüttelndes nothing and all (Tom! Tom!), Raum, Zeit, Getöse. Vor allem letzteres. (Tom!)

 

32.

Der Riegel ist nicht leicht zu öffnen. Unbestimmt bleibt, in welche Richtung man die Kraft einsetzen und wie man sie dosieren müsste, wollte man das Geräusch auf ein Minimum reduzieren. Letzteres weniger, um den Schlaf der anderen nicht zu unterbrechen, als vielmehr, um ihrem angespannten Schweigen keinen allzugroßen Brocken hinzuwerfen, auf den, die Backen gebläht, es sich stürzen könnte, um ihn mit äußerster Gier zu verschlingen. Aus dem gleichen Grund möchte er auch nicht zur Taschenlampe greifen. Kein Licht! Der Riegel gibt nach, die Tür knarrt in ihren sturm- und regengeprüften Gelenken, einmal und, zurückfedernd, ein weiteres Mal, doch das bleibt vernachlässigbar, verglichen mit dem grässlichen Gähnen, das er ihr entreißt, als er sie jetzt ein, zwei, drei Spaltbreit öffnet, um hinauszuschlüpfen.

 

33.

Schnee! Abschüssige weiße, paillierte Fläche, die Felsbrocken schwarz gesockelt, bestäubt die Hütten, milchblaues Licht, schimmrig hinuntergleitend zum Rand der Welt, dorthin, wo, ein letzter erahnbarer Wegweiser, der morsche Abtritt hängt.

Licht.

Edward, eingewickelt und traumfest, kauert nieder, greift zu, um zu begreifen. Vorsichtig, zögernd schiebt er die Hände vorwärts, bis sie die mit dem Lineal gezogene Linie berühren, jenseits derer schlagartig das Mirakel beginnt. Schlangen gleich winden sich die Finger hinaus, fremdartig, weiß, von dem aus einer bläulichen Tinktur gewonnenen Schleier leicht versehrt, der als zarter Sprühregen über den Dingen liegt. Es kostet ihn Mühe, die bewegten Glieder als seine anzuerkennen, ihren Verrenkungen Impulse zuzuordnen, die er – sehr sehr am Rande, mit einer kleinen Verzögerung – in seinem Körper ortet.

 

34.

Traum auch dies: sie wollen nicht sehen. Vergebens bemüht sich Edward, rückwärts an den Türpfosten gelehnt, den Genossen den Schritt ins Freie schmackhaft zu machen, vergebens rühmt er ins dumpfe Hüttendunkel hinein, wunderlich berührt von der zwittrigen Situation, die Aussicht auf überzuckerte Weiten unter der leuchtend blauen Scheibe des Vollmonds, vergebens lockt er sie mit dem banalen Glück, für ein paar Minuten der verfluchten Horizontalen staunend ein Schnippchen zu schlagen – das einzige Staunen, das ihm entgegenschlägt (denn natürlich hat keiner geschlafen), gilt dem ungewöhnlichen Aktivismus, den er um diese Nachtzeit entfaltet, und der nur eine Erklärung zulässt, die alsbald in praktische Ratschläge umschlägt. So trollt er sich, eine ihm aus der unheimeligen Höhlung zugeworfene Packung »Hakle feucht« zwischen den Fingern, in das Weiße hinein (Regt sich...? Nein, definitiv nein!), noch immer von der unirdischen Erscheinung verzaubert und ihr hörig bis zu den freiliegenden, frei vibrierenden Enden seines Gefühls – auch wenn er nichts weiter vernimmt als das Röhren des Windes –, und ist froh, in dem glitschigen, schwarzen Gemäuer einen halbwegs gefüllten Wassereimer vorzufinden, dessen Inhalt er über den undeutlich wahrgenommenen Betonboden schwappt, ungefähr in die Richtung, in der an unsagbarer Stelle ein Loch klafft.

 

35.

Messiassatt sucht Stefan den Freund. Er findet sein Auge auf gähnender Höhe, verlassen liegt es wie das Auge eines gestrandeten Wals. Er öffnet das Lid – es geht wider Erwarten leicht vonstatten –, tritt durch die Pupille und sieht sich um. Der Raum, in dem er sich nun befindet, ist leer. Es ist ein heller Raum, das milchige Rund der Pupille lässt ausreichend Licht ein. Er ist nicht ganz regelmäßig gebaut, die Wände buchten hier und da aus, so dass er auf den ersten Blick klein und übersichtlich, auf den zweiten und dritten unbestimmt groß und unübersichtlich erscheint. Stefan sucht nach Zeichen, die auf eine kürzliche Anwesenheit des Bewohners schließen lassen. Die Wände sind glatt und bilderlos. Er tastet sie ab, ein Nagel könnte die Botschaft enthalten. Vergebliche Suche!

Aber wer weiß. Die Wände dehnen sich unter seinen Händen, sie weichen zurück und führen in Kavernen hinein, entfalten Ausbuchtungen, die sich in Gänge verwandeln, sobald sein immerreges Fingerspiel ihnen näherkommt. Auch nimmt das durch die Pupille einfallende Licht gefährlich ab. Nach kurzer Unruhe bemerkt Stefan, dass die Wände selbst ein wenig Helligkeit absondern – nicht viel, aber ausreichend, um die Suche in Ruhe fortzusetzen.

Aber was sucht er denn? Der Freund ist nicht da, er ist ausgegangen, ein Pfiff kann ihn davon überzeugen. Doch er weiß, das wäre zu billig. Er fühlt sich entspannt. Seinetwegen kann die Suche stundenlang dauern, er hat keine Eile.

Vielleicht ist der, den er sucht, ein anderer. Immer ist der, den man sucht, ein anderer. Immer ist ein anderer der, den man sucht. Immer ist der, den man sucht, der andere... Wer redet diesen Quatsch überhaupt? Ist er etwa in diesem elastischen Labyrinth nicht allein? Riefe er jetzt, vielleicht träten andere aus den Wänden heraus und auf ihn zu. Aber nein, er kann nicht rufen, er könnte nicht, selbst wenn er wollte. Gewiss wäre es interessant, dafür Gründe zu finden, nur im Augenblick darf er sich damit nicht befassen. Er darf nicht, denn das würde seiner Aufgabe widersprechen. Nichts kommt dieser Aufgabe gleich. Sie erschlüge ihn, versagte er jetzt. Es ist das Herz, sagt man, das dann überhandnimmt. Es erschlägt dich von innen.

 

36.

Niemals wird er den anderen verraten, dass er in dieser Nacht der Herrin des Summit-Hotels begegnet, an das er vom ersten Aufstieg her ein sentimentales Andenken bewahrt. Entschieden frischer wirkte sie damals. So atmet er erleichtert auf, als sie duftend, mit glorreich gebauschtem Haar – der Besuch in Nairobi kann nur wenige Tage zurückliegen oder im Hilda Hair Salon sind inzwischen moderne Zeiten angebrochen –, aus der an dieser Stelle etwas höckrigen Wand tritt und ihm die Hand mit jener müden Grazie reicht, die er mehr als alles andere in der Welt bewundert.

»Ach Elsa«, flötet er, seine Verwunderung dämpfend, »ich hätte es mir ja denken können, dass ich dich hier antreffen würde. Dort unten ist dein Zuhause nicht, nur die Not, nur die Not hält dich dort gefangen...«

»Aber geh«, ertönt ihre melodische Stimme, und ihm ist, als schlängele sie sich ihm über Wolken entgegen, »da täuschst du dich gewaltig. Keine Not hält mich gefangen, nur ein klein wenig vielleicht das Mitleid. Das Mitleid, du weißt, ist eine Weltmacht, man muss sich ihr beugen. Aber genauso muss man auch wissen, wie man sich ihr entzieht. Am besten, man versucht es durch Tüchtigkeit. Fleiß, sagt man, regiert die Welt. Kein Wort ist wahr davon. Durch Tüchtigkeit macht man sich unregierbar. Die Tüchtigen sind immer schon auf und davon. Aber das sage ich nur dir, Schatzerl –«

Und sie greift ihm ins Haar, mit ihren schlanken, prachtvollen Händen, aus denen die schwarzen Fingernägel wie Cruise missiles herausstechen, die sie jederzeit ausklinken kann. Ihre Brust atmet, er möchte sich anschmiegen, nur will es ihm nicht gelingen. Alles bleibt, wie es ist.

 

37.

Alles bleibt, wie es ist.

Ist es das, was sie sagen wollte?

Ist sie ihm deswegen nachgegangen?

Oder ist er ihr deswegen nachgegangen?

Ist das hier eine Rätselstunde?

 

38.

Er: Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass es zwischen uns aus ist.

Sie: Ich bin da, um dir zu sagen, dass du dir den Weg sparen konntest.

Er: Ich weiß nicht, wie du das meinst, aber von meiner Seite hast du nichts zu befürchten.

Sie: Ich weiß, es ist aus zwischen uns, aus und vorbei.

Er: Ich höre mit Befriedigung, dass du es so ansiehst.

Sie: Bleib mir mit deiner Befriedigung vom Leib, oder ich vergesse mich.

Er: Ich gebe zu, vormals hat dein Leib eine gewisse Anziehung auf mich ausgeübt. Jetzt erregt er mir eher fast Widerwillen.

Sie: Und wider Willen steigst du mir nach, du Schwein.

Er: Wenn du willst, wälze ich mich vor dir auf dem Boden.

Sie: Der Boden würde sich öffnen und dich verschlingen.

Er: Deine Metaphorik war schon einmal besser.

Sie: Es gab eine Zeit, da glaubte ich, du seiest mehr als eine Metapher. Heute frage ich mich, ob du mehr bist als die Krümmung des Fragezeichens am Ende der Frage, die einer wie du aufwirft.

Er: Ich hätte es wissen müssen.

Sie: Du hättest es wissen können.

Er: Du hättest es sagen müssen.

Sie: Warum? Damit du es gegen mich verwendest?

Er: Das hast du auch so erreicht.

Sie: Du wagst mir das zu sagen?

Er: Warum nicht? Reden wir!

Sie: Wann habe ich diese Stimme das letzte Mal gehört? Es muss lange her sein. Schon damals klang sie verletzend, aber ich wollte davon nichts wissen. Ich muss wohl jung gewesen sein. Heute bin ich schroff: du könntest dich an mir schneiden. Also streng’ dich an und sei reizend zu mir. Ich könnte dir sehr weh tun: stärker, als du es bei mir vermochtest. Andererseits lohnt es sich nicht. Das bisschen Leben, das an dir war, habe ich mir genommen. Schau mich an, so hast du’s. Quäl’ dich nur auf deinen Gipfel, da ist auch nur Eis. Und wenn schon – ich war vor dir dort. Also geh. Geh –.

 

Notizen für den schweigenden Leser

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Sie sind essenziell für den Betrieb der Seite (keine Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.