Für den geistigen und moralischen
Halt der Menschheit genügen
jeweilen drei große leitende Ideen.
Aber sie müssen dumm sein.
C. Spitteler
Es gingen ja nicht nur die Grenzen auf, sondern auch die menschlichen Archive. Aber wer auf das große Palaver gewartet hatte, auf den umfassenden Austausch der Deutschen über ihre Vergangenheit und Zukunft, der wurde – sofern er nicht gerade in berufsmäßig damit befassten Zirkeln mit ihren schnell gestanzten Formeln und Attitüden zu Hause war – schnell eines besseren belehrt: die Kommunikation gefror exakt entlang der Linien, an denen das geflügelte Wort nach dem Mauerfall, jenes komische »Wahnsinn!«, Posten bezogen hatte. So folgte auf den »Wahnsinn!« die Negativphrase von der »Mauer in den Köpfen«, rasch und mörtellos aufgetürmt, mitsamt der ähnlich komischen, aber vielleicht weniger unschuldigen öffentlichen Anweisung: »Die Mauer muss weg!« Sie wich aber nicht, wenigstens nicht in jenen Monaten, die zu Jahren werden sollten, und um das zu begreifen war es ausgesprochen kontraproduktiv, den politischen und ökonomischen Imperialismus des Westens an den schnell gezimmerten Pranger einer neuen Aufklärung nach gewohntem Muster zu stellen. Die Kritik, das attributlose Standardzeichen des westdeutschen Intellektuellenbetriebs, war bereits stumpf geworden und so läutete jene ›Wende‹ neben dem Ende des Staatssozialismus auf europäischem Boden auch das schon bei Sartre vorausgesagte Ende der Intellektuellen ein. Sie begriffen es nur nicht so schnell, sie bevorzugten es, ihre schnell gezimmerten statements als Indikatoren einer situativ gesteigerten Wichtigkeit zu deuten, ohne wissen zu wollen, dass die Bevölkerung weiter war und ihren Ausführungen eher mit mildem Kopfschütteln folgte.
Die Erwartungshaltung Ost mitsamt den Erfahrungen, die sie erst ermöglichte, stößt in diesem Essay auf die Neugier dessen, der, wie so viele, auszog, um sich von den Ereignissen anstecken zu lassen und dabei zu sein, wenn einmal – vermutlich das einzige, jedenfalls das erste Mal innerhalb der eigenen Lebensspanne – das Schicksal der Nation offenlag und alle Parameter einer modernen Gesellschaft neu diskutiert und justiert werden mussten. Dass es nicht dazu kam, war im Frühsommer 1991, als die ersten Texte entstanden, noch keineswegs abzusehen, wohl aber, dass der Weg dahin durch Trümmer verlegt wurde, die bei jedem Versuch, sie beiseite zu räumen, auf unverhältnismäßige Weise nachrollten und das Gelände nur schwerer passierbar machten. Deshalb beschränken sich diese Beobachtungen und Versuche zur Mikroanalyse auf zwei eng begrenzte, unauffällig miteinander verzahnte Gebiete: das neue Ostgefühl der gen Westen Aufgebrochenen und seine indiskreten Auslöser sowie die herrische Attitüde, mit der Teile des westdeutschen Wissenschafts-Establishments die Reurbanisierung ihres östlichen Gegenlagers betreiben zu müssen glaubten. Im – später geschriebenen – Schlussteil rücken dann die Risiken und Tücken der transnational konzipierten Renationalisierung der deutschen Europapolitik in den Blick, wie sie sich in der Folgezeit abzuzeichnen begannen.
Es war im sonnigen Mai jenes Jahres, ich saß zwischen zwei Seminaren in einem Leipziger Café, das durch eine wacklig gewordene, von niemandem mehr ernst genommene Barriere in zwei Hälften geteilt wurde, auf der anderen Seite der Barriere monologisierte ein Rentner, während er nachdenklich in seinem Kaffee rührte, der darüber kalt werden mochte, und was hörten meine erstaunten Ohren? »Wir müssen nicht mehr in den Westen fahren, der Westen ist jetzt hier. Der Kaffee schmeckt und die Mädchen sehen hübsch aus.« Nie werde ich den sanft singenden Tonfall vergessen. Diesem unbekannten Zeitzeugen ist das Büchlein gewidmet.