Zwischen den höheren Tieren, das haben britische Forscher*innen in einer kürzlich veröffentlichten Studie festgestellt, herrscht ein ewiger Wettkampf. Nicht etwa, wie man nach dem Gesetz des Fressens und Gefressenwerdens annehmen dürfte, darum, welches das stärkste, gierigste, potenteste, sondern welches von allen das stolzeste sei. Alles tierische Leben, so die neuere Wissenschaft, dreht sich um den Stolz.

Hat man je, wie es zur Erhöhung der Überlebenschancen das Gegebene wäre, Tiere beim Training ihrer Muskulatur oder ihres Reaktionsvermögens oder ihres aggressiven Gruppenverhaltens gesehen? Natürlich nicht. Man könnte dagegenhalten, das Leben der Tiere an sich, zumindest der wild lebenden, sei ein einziges Überlebenstraining. Aber das würde das nüchterne Bild einer Natur verwischen, die, bei gestilltem Bedürfnis, bloß eines ist: faul.

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Faulheit und Stolz, man kennt es aus der Soziologie des Menschen, gehen gut zusammen. Je fauler eine Gesellschaft, desto stolzer treten ihre Vertreter auf. Das fleißigste Volk ist ein Volk ohne Stolz. Deshalb wechseln im Lande der Emsigen auch die Regierungen selten … es kommt seinen Bewohnern nicht darauf an, wer über sie das Zepter schwingt und sie im Alltag schikaniert. Lässt man sie wählen, so fällt ihre Wahl auf immer die gleichen Schlaumeier. Das liegt ihnen, wenn man so will, in den Genen. Damit fällt ihr Verhalten auf ein tierisches Niveau zurück, um es, nun ja, zu unterbieten: unter den Tieren ist (oder wäre) der fleißige Mensch das verachtetste.

Wie das bei Superlativen der Fall zu sein pflegt, besitzt auch dieser einen Haken. Sich des stolzen Nichtstuns zu befleißigen erfordert, neben einer unerschütterlichen Haltung, Wachsamkeit rund um die Uhr. Nichts ist verletzlicher als der Stolz. Ein falsches Wort, eine falsche Geste – schon ist das Unheil geschehen und kein Aufwand guten Willens holt es zurück. Nichts natürlicher also, als dass die in Betracht kommenden Tiere einmal alle vier Jahre zur großen Stolz-Olympiade antreten: Hier werden die Stolzesten der Stolzen gekürt, die dann bis zur nächsten Wahl die Tierheit als solche repräsentieren dürfen.

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Auftritt der Hahn: Was immer man von ihm halten mag, er ist Bewerber Nummer eins, der am Ende stets leer ausgeht. Und niemals versteht er die Zurücksetzung, denn Stolz ist nun einmal seine ganze Existenz. Es ist nur nicht der eigene, sondern ein aus dem fleißigen Hühnervolk qua Arbeit extrahierter, in seiner Figur zusammenschießender Kollektivstolz. Entsprechend bizarr ist sie anzusehen. Ohne Übertreibung kann man konstatieren: der Hahn ist der Stolz seiner Hennen und sonst keiner. Das reicht natürlich nicht, um in Betracht zu kommen. (Ähnliches gilt für den Fasan und vor allem den Pfau, beide Lieblinge der Menschen, was allein reichen würde, um sie in diesem Wettbewerb zu disqualifizieren. Tiere besitzen ein feines Sensorium, das sorgfältig zwischen Eitelkeit und Stolz unterscheidet. Den Pfau jedenfalls haben sie, kaum dass sie seiner ansichtig wurden, samt seiner ausgedehnten Verwandtschaft gefressen.)

Am anderen Ende der Skala verfügt der männliche Löwe über alle Voraussetzungen, aus dem Wettbewerb als Sieger hervorzugehen. Seine Faulheit übertrifft jedes tierische Maß, sie ist göttlich. Leisten kann er sie sich, weil die physische Kraft seiner Gespielinnen ausreicht, um das restliche Tierreich in Schach zu halten und ihrer beider Lebensunterhalt zu bestreiten. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – zögern die Juroren immer wieder, ihm die Palme zu reichen: Erstens fürchten sie sich, ihm allzu nahe zu kommen, zweitens überwiegen die Zweifel, ob sie nicht doch bloß die wüste Kraft prämieren würden, die sich den Stolz als Nebenauslauf gönnt, weil sie sonst nicht wüsste, worauf sie hinaus sollte. Gesucht ist aber der Stolz um des Stolzes willen, der reine Stolz des Tieres, das keinen weiteren Lebenszweck kennt als den da zu sein – ausschließlich da zu sein, so wie kein Stein und keine Anemone es vermöchte.

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So läuft die Jurorenschaft letztendlich Gefahr, dem aufdringlichen Charme des Wiesels zu erliegen, eines flinken Beutegauners, der in alle Verhältnisse eindringt und jede Situation zu seinen Gunsten auszunützen versteht, selbstverständlich auch die des Wettkampfs, wobei er in edler Abstinenz nichts anzunehmen wünscht außer dem Preis selbst, weil er sicher ist, sich anschließend doppelt und dreifach an seinen Wählern schadlos zu halten. Eigentlich betrachtet das Wiesel den ganzen Wettstreit als seine Hausstrecke. Es hat ihn oft genug gewonnen und weiß, wie der Hase läuft. Wirklich ist sein Stolz völlig sinnlos, eine freche Überheblichkeit gegenüber den anderen Tieren, deren Gutmütigkeit es Tag für Tag auszunützen versteht. Diesmal aber … immer gibt es ein ›diesmal‹, also auch in dieser etwas sonderbaren Geschichte – diesmal aber hat es die Rechnung ohne die Trillerpfeife gemacht, die, wie vom Teufel selbst deponiert, die Blicke der zum letzten Spruch versammelten Juroren auf sich zieht. Ein Pfiff – und alle Tiere, eingeschlossen die Juroren, sind in den Büschen verschwunden. Langsam tasten sie sich, nachdem die Stille wieder hergestellt ist, hervor – ein Pfiff, und aufs Neue sind sie verschwunden. Wovor fürchten sie sich? Niemand setzt ihnen nach, niemand bedroht sie, unbewegt liegt die Trillerpfeife. Sie macht mit ihnen, was sie will, doch was sie will, das weiß keiner.

Langsam begreift der eine oder andere, dass die Pfeife sie alle nach Belieben in ihren Bann schlägt. Es kommt nicht darauf an, wer sie pfeift und warum. Ein Pfiff genügt und alle liegen in den Büschen oder hocken auf den Bäumen, unfähig, ihrer Lähmung Herr zu werden. Was sie so allen Stolzes entblößt, das muss wohl das Stolzeste sein, das die Erde für sie bereithält. ›Sei unser Stolz, nasführe uns‹ beten sie in ihren staubigen Verstecken und wagen sich kaum ans Tageslicht. Denn tief unter ihren Federn und Fellen wissen sie wohl, dass sie verloren sind.

 

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