Geistmenschen (›Intellektuelle‹): Menschen, in denen die Leidenschaft des Denkens jede andere Leidenschaft überwiegt. Nicht zu verwechseln mit der Intelligenz eines Landes (›Intelligenzija‹), den Angehörigen ›geistiger‹, d.h. nicht-körperlicher Berufe. Da letztere in der Mehrheit sind, fällt es ihnen nicht schwer, sich ›als Intellektuelle zu verstehen‹. Das passiert vor allem in Hochschulberufen und im Journalismus, falls nicht, wie oft genug, der Antiintellektualismus bei der Wortwahl den Ausschlag gibt. Entsprechend gibt es zwei Antiintellektualismen: der eine richtet sich gegen die Intellektuellen, der andere gegen die ›Berufsintellektuellen‹, sprich: die Intelligenz.
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Nun sind auch Intelligenz und Intelligenz nicht dasselbe. Die Intelligenzforschung belehrt darüber, dass Wissenschaft ganz unterschiedliche Ansprüche an die Intelligenz ihres Personals stellt: Während die Naturwissenschaften grosso modo einen Durchschnitts-IQ von 140 erfordern, soll, glaubt man den Quellen, in den Kulturwissenschaften ein Durchschnitt von 120 genügen – nicht viel anders als in der Welt der Abteilungsleiter und Freizeitunternehmer. Aber genügt er wirklich? In der Krise zeigt sich, dass kein Verantwortlicher auf die Idee kommt, bei den Kulturwissenschaften um Rat nachzusuchen, schon gar nicht bei den sogenannten Geisteswissenschaften, soweit man ihnen das Etikett gelassen hat. Man hat sich angewöhnt, den ganzen Fächerbogen als dekadent zu betrachten, als Spielwiese für soziale Experimente und Tummelplatz für Ideologen.
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In der liberalen Öffentlichkeit sind Intellektuelle so etwas wie Leuchttürme des gehobenen Journalismus: Man kommt auf sie zurück, man befragt und zitiert sie, man ist stolz darauf, wenn man einen Artikel aus ihrer Feder veröffentlichen darf. Journalisten sind Mittler und wissen das, solange sie nicht von der Zecke des Totalitarismus gebissen sind und beginnen, ihren ›Auftrag‹ ganz ganz ernst zu nehmen. In Deutschland geht diese Entwicklung zurück auf die neunziger Jahre. Damals setzte ein Intellektuellensterben in großem Stil ein, beflügelt durch das Desaster des Linksintellektualismus, der es sich allzu lange in der Utopie bequem gemacht hatte und nun zusehen musste, dass die Hütte lichterloh brannte. Nicht jeder brachte damals die Chuzpe eines Habermas auf, der ungerührt im Kanzlergefolge auf Europakurs ging.
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Fragt man nach den weithin sichtbaren Säulen, auf denen die Post-89er-Welt beruht, so findet man diese zwei: (1) Politiker sind Schauspieler, und (2) Öffentlichkeit ist Journalismus. Das ist der Tendenz nach immer richtig, aber in dieser unverbrämten Gleichsetzung ein Desaster. So wie es einen Unterschied bedeutet, ob jemand seine Sache gut macht oder seine Rolle gut spielt, auch wenn die Wahrnehmung des Unterschieds durch tausend Filter gebrochen und fast unmöglich gemacht wird, so bedeutet es einen Unterschied, ob Meinungsjournalisten sich an Intellektuellen orientieren oder ob sie eine opake Oberfläche bilden, die nichts anderes durchlässt als Journalismus. Die öffentliche Häme über die lästigen ›alten weißen Männer‹ findet auch darin ihren Ursprung, dass die letzten sichtbaren Intellektuellen dieser Personengruppe angehören – nach ihnen sollte nichts Nennenswertes kommen und so geschah es auch (die üblichen Kasper des medialen Diskurses abgerechnet).
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In dieser Situation einen Erfolgsschriftsteller zu hören, der gegen den Strom schwimmt, könnte eine Wohltat bedeuten. Schriftsteller sind Menschen, in denen die Leidenschaft des Schreibens jede andere Leidenschaft übertrifft. Mit Intelligenz hat das wenig zu tun, es wird aber immer ein wenig mit in den Strudel des Schreibens gerissen, weshalb trotz allem gilt: Lesen bildet. Leider bringen es die ökonomischen Zwänge mit sich, dass die Produkte der Schriftstellerei nach wie vor zwischen zwei Buchdeckel gezwängt werden und dort auf Käufer warten, während das Lesen längst in die Freiheit der Netze ausgewandert ist und sich allzu leicht von tückischen Mittlern über ihren Inhalt betrügen lässt. Daran ändert auch die Zahl der verkauften Bücher nichts: Gekauft und gelesen werden sind zwei paar Stiefel.
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Was hast du gehört? Einen Schriftsteller, der sich beschwert. Worüber beschwert sich der Mann? Über persönliches Ungemach? Geschenkt. Reden wir nicht darüber, andere trifft es härter. Über die Verhältnisse? Man kann sich als Bahnfahrer über die Verhältnisse beschweren (›zu zugig, zu unpünktlich!‹), als Bauer (›Preise im Keller!‹), als Bürger (›Politiker … machen, was sie wollen!‹) oder als Rentner (›Schweinerei!‹) – aber als Schriftsteller? Man kann, kein Zweifel. Aber redet man dann als Schriftsteller? Was heißt als Schriftsteller reden? Schließlich erfolgt die Aufforderung zur öffentlichen Rede, weil man der und der ist. Man ist der und der, weil man als Schriftsteller Erfolg hat. Befragt wird der Mensch, der Erfolg hat. Aber das kehrt die ursprüngliche Aussage um: Hinter diesem Schriftsteller steckt einer, der sich beschweren will. Was ist dann mit der Leidenschaft, die alle anderen Leidenschaften übertrifft? Man befragt den Schriftsteller und bekommt den Nachbarn, der sich beschwert. Das gefällt vielen Leuten, die nie ein Buch in die Hand nehmen würden. Da hätte der Herr Schriftsteller sich doch die Mühe des Buchschreibens sparen können! Aber nein: Dann hörte ihm keiner zu. Aber vielleicht entfiele damit auch der Grund, sich zu beschweren.
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Ist die Beschwerde berechtigt, dann kann es verdienstvoll sein, sich zu beschweren. Vielleicht beschweren sich viele, vielleicht haben sich viele bereits beschwert, ehe dieser den Mund aufbekam. Ganz sicher ist das so. Er hätte sich darüber beschweren können, dass diese Menschen kein Gehör bekommen, nein, dass sie denunziert, verhöhnt und sogar verfolgt werden. Er hätte, da die Beschwerde der Politik gilt, sich politisch verhalten können. Er hätte, da es in diesem Fall mit dem bloßen Schreiben nicht getan ist, das verwaiste Amt des Intellektuellen beanspruchen können. Er hätte die Verhältnisse analysieren können – samt denen der Kritiker der Verhältnisse und ihrer Kritik. Er hätte… Aber nein, er hat etwas geschrieben, ein dickes Etwas, es wurde veröffentlicht, der Verlag will Verkaufszahlen sehen und nun verlangt man von ihm, sich über die Kritik an ihm zu beschweren. ›Aber das ist armselig!‹ Das mag sein, aber kein Schauspieler auf öffentlicher Bühne hielte es anders.
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Einmal mehr: Wer sich einen breiteren Korridor erlaubter Rede wünscht, der bewegt sich innerhalb der erlaubten Rede. Das mag erlaubt sein, aber es ist nicht die freie Rede, die das Grundgesetz garantiert. Erlaubt ist, was gefällt, sagt Goethes Tasso zur Prinzessin. Will er sagen, was ihm gefällt, oder will er gefallen? Wer das so genau wüsste. Erlaubt ist, was sich ziemt, entgegnet die Prinzessin und trifft den Nagel auf den Kopf: Was sich ziemt, das gefällt. Der Schriftsteller, der sich in diesem engen Zirkel bewegt, ist ein Höfling. Er will die Grenzen des Ziemlichen etwas weiter gezogen wissen. Warum? Weil er gefallen will. Nein: weil er ein Recht darauf zu haben glaubt, dass seine Rede gefällt. Schließlich ist er Erfolgsautor. Davon steht nichts im Grundgesetz.
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Erlaubte Rede, geschraubte Rede: Gemeint ist in jedem Fall der Diskurs. Der Diskurs lebt von den Grenzen, die er dem Reden auferlegt. Wer sie verletzt, der gehört nicht dazu. Er kann reden, soviel er will, aber seine Rede bewegt sich außerhalb des Diskurses. Diskurse – es gibt sie nur in der Mehrzahl! – dienen der Gruppenabgrenzung: Wir gegen die da. Wer zur Gruppe gehört (der Erfolgsschriftsteller gehört zu einer öffentlichkeitswirksamen Gruppe, genannt Literaturbetrieb) und die Diskursregel dieser Gruppe durchbricht, bekommt die Kohäsionskraft zu spüren, welche die Gruppe zusammenhält: Alles fällt über mich her, ich bekomme auch viel Zuspruch, das gibt mir Mut. Das ist nicht das Offene, allenfalls die Brandung, die den festen Boden der Zugehörigkeit umspült. Wer das Offene gewinnen will, der muss da durch. Wer sich über die Brandung beschwert, ist schon umgekehrt. Bleibt die Frage, ob die Journaille ihn wieder in Gnaden aufnimmt. Das Nähere regelt die SPIEGEL-Bestsellerliste.