Zum neuen Jahr. Du erntest Befremden wie andere Leute Lob oder Tadel. Es sind die Früchte deiner Arbeit, sie zeigen, dass du auf dem richtigen Wege bist. Nur reif muss es sein, andernfalls war alle Arbeit umsonst.

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Eine der Wirkungen des Internet auf die Theorie: Es trennt den Faktor ›Masse‹ von dem noch immer Massenpsyche genannten Effekt. Die aus Menschenleibern gebildete Menge verschafft sich, hat sie einmal den öffentlichen Raum okkupiert, kraft ihrer schieren Größe und Erregbarkeit Respekt – den ›Bammel‹ vor der Überzahl, gegen die Widerstand zwar möglich, aber potentiell gefährlich und am Ende zwecklos ist, es sei denn, es gelingt, sie mit guten Worten oder Gewalt auseinanderzutreiben. Das reicht, um sie als Machtfaktor und damit, latent oder akut, als Herausforderung für die Macht auf die Waagschale zu setzen. Das ›Erlebnis‹ der Masse setzt physische Präsenz voraus – zwar nicht immer und überall, aber idealiter, als Bedrohungs- und Steigerungsszenario für den Einzelnen, der sich ihr im kleinen Rahmen entziehen kann, aber nicht grundsätzlich und nicht überall.

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Die virtuelle Masse konstituiert sich im ›Hype‹, einem Aufmerksamkeits- und Mimesisphänomen, das sich gelegentlich zu dem steigert, was in robuster Sprache als ›shitstorm‹ gehandelt wird – Nachfolger des ›Entrüstungssturms‹, der sich einst im ›Blätterwald‹ auszutoben pflegte. Der Blätterwald fiel dem metaphorischen Waldsterben zum Opfer, das dem realen längst den Rang abgelaufen hat. Stehen blieben Stümpfe auf kahler Fläche. Weitergezogen hingegen ist der Sturm: scheinbar durch Knopfdruck beliebig erzeugbar, doch im Kern wie eh und je undurchschaubar. Die im Internet wogende Masse genießt eine Art der Versammlungsfreiheit, die sich von der im Raum kategorial unterscheidet: Während die eine, gleichgültig um die Rechtslage, genommen ist, ist die andere stets gegeben, und zwar exakt so lange, wie die Sperrung des virtuellen Raums nicht mehr als eine abstrakte Alternative zur gängigen Praxis bietet. Physische Sperren lassen sich überwinden oder umgehen. Die Abschaltung eines Mediums setzt der Freiheit der Bewegung ein unhintergehbares Ende.

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Unablässig tendiert die mediale Lage der Netzbewohner zur Hysterie. Die Masse der Benutzer will Sicherheit: Sicherheit der gespeicherten und jederzeit entwend‑, manipulier‑ und löschbaren Daten, der sanktionsgefährdeten Freiheit der Meinungsäußerung sowie des ebenso grenzenlosen wie dauerhaften Zugangs zum Medium – etwas, das es, allen Zusicherungen der Netzbetreiber zum Trotz, nicht geben kann und auch, wenn es nach dem Willen der jeweils Mächtigen geht, nicht geben darf. Die diffuse Sicherheitslage schweißt die Benutzer zur Masse zusammen und treibt sie in Wellen gegeneinander. Wer mit der Mehrheit geht, rechnet sich größere Überlebenschancen im medialen Katz-und-Maus-Spiel aus als der ›underdog‹, der Angehörige einer, rein zahlenmäßig, unterlegenen Spezies. Natürlich verbinden sich damit, angeregt durch die Stars der Szene, auch Phantasien über die eigene Sichtbarkeit. In gewisser Weise unterscheidet der Faktor ›Sichtbarkeit des Einzelnen‹ die mediale Masse von der physischen, in welcher der Einzelne untergeht und offensichtlich auch untergehen will.

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Sichtbarkeit als ›Endzweck‹ und höchstes Gut des Medienmenschen verändert alles. Denn hier handelt es sich um das traditionelle Privileg der Mächtigen sowie ihrer Imitatoren und Botschafter, der Schauspieler –

»Denn man siehet die im Lichte,
die im Dunkeln sieht man nicht.«
(Brecht, Dreigroschenoper)

Konzentriert sich der Einzelne auf die je eigene Sichtbarkeit (der offenkundig ein illusionäres Element innewohnt, das entfernt an die Protuberanzen der Intellektuellen-Existenz erinnert), so verschärft sich die Konkurrenz der Wenigen und der Vielen zur erbitterten Gegnerschaft. Zwangsläufig nimmt dabei die jeweils andere Seite dämonische Züge an und fühlt sich ihrerseits verteufelt. Wer gewohnt ist, von goldenen Tellern zu speisen, empfindet es als Status-Bedrohung, wenn die Mindernickel sich aus der gleichen Speisekarte bedienen. Prompt mutiert ›das Netz‹ zur Brutstätte für Verschwörer und ›Verschwörungstheoretiker‹, zu deren Überwachung Polizei und Geheimdienste abkommandiert werden, während man selbst es exzessiv nützt. Im Gegenzug – denn alles geschieht hier Zug um Zug – stilisieren die Überwachten und Gemaßregelten sich zur ›Gegenöffentlichkeit‹, während sie doch nur einen Teil (respektive Aspekt) von Öffentlichkeit in den Zeiten des weltweiten Netzes repräsentieren.

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Auch hier wirkt der Mechanismus der Identifikation und Übertragung: durch ihn werden Idole (und Teufel) geschaffen und florieren Gefolgschaften (followerships). Das kleine Ich schlüpft hinüber ins große, das mehr Aufmerksamkeit und Prestige verspricht, als wär’s ein selbstverständlicher Teil von ihm. Doch anders als in hierarchisch strukturierten Kommunikationssystemen handelt es sich um Gefolgschaften ohne Loyalität. Das mediale, vom alltäglichen abgehobene Ego schiebt sich ununterbrochen über das – flüchtige – Idol und lässt sich in seiner Enttäuschungsbereitschaft durch nichts und niemanden übertreffen. Das Ergebnis ist ein auf Dauer gestellter Albtraum für Politiker, die ohne stabile Gefolgschaft im luftleeren Raum operieren.

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Das Internet hat eine durch Vereine, Stiftungen und allerlei verdeckte Hände geförderte Verfolgtenkaste hervorgebracht, die ihren Einfluss geltend macht, indem sie ›Haltet den Dieb!‹ schreit und dabei mit ausgestrecktem Finger auf die im Netz der Netze wogende Menge von Einzelnen deutet: Populismus! Wer sich mit dem ›Volk‹ einig glaubt, ist Populist. Nicht immer versteht man gleich, was gemeint ist, es sei denn, man ist vorverständigt und bereits auf dem Posten. Wo steht der Feind? Im Zweifel ›rechts‹, aber das hat, wie jedermann weiß, nichts zu bedeuten. Verständlicherweise ist die virtuelle Menge alles andere als homogen. Mit Mikrophon, Kamera und einem gewissen, nicht selten skurrilen Hang zur Selbstdarstellung ausgerüstete Einzelfiguren, die den ›im Volk‹ kurrenten Auffassungen kräftig Ausdruck zu geben verstehen und damit in den Suchkegel der verfolgten Verfolger geraten, müssen sich warm anziehen: Sie sind, will man letzteren glauben, die neue Gefahr im Staate und bedrohen, nach dem Willen von allerlei Sittenwächtern, unser aller Freiheit.

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An solchen von fest installierten Netzwächtern rasch enttarnten und ›demonetarisierten‹ Einpersonen-Studios, nicht zu verwechseln mit denen professioneller Journalisten, die sich dem Gründerboom verschrieben haben oder vom Betrieb in die Einsamkeit der Nische vertrieben wurden, um dort ebenfalls schikaniert zu werden, lässt sich ablesen, wie sehr die mediale Entwicklung hinter dem Stand der Technik herhinkt. Nicht dass sie existieren, sollte das Ärgernis sein, wäre die Entwicklung weit genug fortgeschritten, sondern dass sie perhorresziert werden können, als erhebe Gottseibeiuns in ihnen seine Stimme. Da macht sich die Negativmacht eines künstlich konservierten ›Mainstreams‹ bemerkbar, dessen Geschäftsgrundlage in der Steigbügelhalterei für Instanzen zu suchen ist, die ihm zuliebe den Markt manipulieren und ihn gleich mit. Eine ›Presse‹, die notorisch dazu schweigt, dass ›kritische Stimmen‹ drangsaliert werden, und die, wenn überhaupt, das Geschäft der Drangsalierer betreibt, demonstriert damit ad oculos, dass jemand im Hintergrund über die Macht verfügt, sie jederzeit zum Schweigen zu bringen, und dass er diese Macht einsetzt.

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Das Medienspektakel hat Traditionsparteien bis zur Unkenntlichkeit deformiert und einen Politiker-Typus hervorgebracht, der kaum mehr beherrscht als das virtuose Spiel auf dem Klavier der Ängste. Dass sich der Covid-Hype wie geschehen entwickeln konnte, verdankt sich, unter anderem, auch dieser irgendwann in Regierungsfunktionen angekommenen Spezies. Das lässt auf tiefgehende Rekrutierungsprobleme bei den Parteien schließen. Dafür gibt es, nach Lage der Dinge, bloß zwei Kandidaten: den Unwillen bei der jüngeren Bevölkerung, sich in den Machtspielen der Parteistrategen verheizen zu lassen, und die in den Parteien wirkenden Selektionsmechanismen, die in schöner Regelmäßigkeit einen bestimmten Karrieretypus nach oben befördern und ansonsten dafür sorgen, dass der Sachverstand, der die Republik am Laufen hält, unten bleibt. Machtmaschinen verschleißen, wie andere soziale Maschinen auch, im Gang der Generationen. Irgendwann erfüllen sie die ihnen von ihren Gründern und der Verfassung zugedachte Aufgabe nur noch näherungsweise, sie laufen weiter und gleichzeitig laufen sie aus. Was funktioniert, ist die Hand auf den Pfründen.

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Kabarett in Zeiten der Cholera: Was einmal darauf aus war, den Mächtigen die Blässe ins Gesicht zu treiben (»Lächeln! Weiter lächeln!«) und für die Schärfe der Wortwahl oder des Witzes beim Publikum johlende Anerkennung zu finden, lässt sich jetzt daran messen, wie geschickt es die roten Linien im Raum auslotet und respektiert, während das ›Volk‹ – das Publikum – längst weiter ist und gönnerhaft der Aufführung folgt, nicht zu reden von der Politik, die sich schweigend ins Twitter-Schnarchgemach zurückgezogen hat. Öffentlich-rechtliches Kabarett oder der verzweifelte Versuch so zu tun, als gäbe es kein Netz, in dem sich haarklein alles Umtänzelte nachlesen lässt. Natürlich besitzt auch das seinen Vorlauf. Die Abgebrühtheit der Mächtigen war und ist im Ernstfall stets prompter als die Flucht der Pointen, die das Team im Hintergrund in wochenlanger Kleinarbeit ausgekocht hat. Die Wahrheit ist: Politisches Kabarett lebt wie eh und je von Kaisers Zeiten, ohne Monarchen-Gefrozzel geht wenig.

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