Das Tabu einer Gesellschaft, die – nominell – keine Tabus kennt, sondern bloß Hass, ist das Tabu selbst. Auch das geht nur eine Zeitlang gut. Irgendwann wird auch das Tabu-Tabu zum beherrschenden Thema. Menschen, die sich für den verantwortlichen Teil der Gesellschaft halten, streiten sich wie die Kesselflicker um die Frage, ob es existiert. Wie kann ein Mensch, der ›seine Sinne beisammen hat‹, sein Vorhandensein abstreiten? Ein Autofahrer, der das Vorhandensein des Lenkrads abstreitet, das in seinen Händen liegt, während er den Blick auf die Straße vor ihm richtet, ist wahnsinnig. Ein Teil der Gesellschaft ist wahnsinnig. Er frönt dem Wahn, der andere Teil folge Wahnvorstellungen. Das klingt nach einer möglichen Symmetrie. Aber das ist nicht der Fall. Unfähigkeit zur Reflexion ist das Thema. Das gilt zugespitzt für alle Bereiche, in denen Selbstreflexion gefragt ist.

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Eine Gesellschaft, die auf Krieg eingestimmt wird (den sie nicht will, den sie fürchtet, aber insgeheim bereits für unvermeidbar hält, obwohl er ›so‹ leicht zu vermeiden wäre), lernt als erstes, den Schuldigen an ihrer Misere zu benennen: den Feind. Die unsichtbare Hand, die sie aus dem Hintergrund anschiebt und leicht zu benennen wäre, läge nicht bereits das Tabu des Krieges auf ihrem Namen, sie darf nicht schuld sein. Andernfalls geriete das Bewusstsein zwischen zwei Mühlsteine –, ohne jede Aussicht, nicht zermahlen zu werden. Der Feind ist der Ausweg. Das ist der Grund, warum die Botschaft vom Feind so gierig aufgesogen wird. Krieg, wie jedes Verbrechen, muss unbedingt einen Schuldigen haben, andernfalls läge kein Verbrechen vor. Krieg, das größte Verbrechen von allen – von Völkermord abgesehen – hat einen klaren Schuldigen: den Feind. Wer beginnt, den Schuldigen in den eigenen Reihen zu suchen, stellt sich auf die Seite der Verbrecher. Für das Mehrheitsgemüt wird er damit einer von ihnen. Dieser Mechanismus der ›Schuldzuweisung‹ ist elementarer als jedes Recht. Man kann auch sagen: die Ermittlung des Schuldigen in einem solchen Fall ist eine Farce.

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Das Tabu lässt niemanden aus. Der Professor, der seinem Gesprächspartner eine ›verzerrte Wahrnehmung‹ bescheinigt und damit einen der ältesten Gassenhauer der Propaganda reproduziert, handelt vielleicht aus einer tiefen Herzensnot, die er als Angehöriger seiner Zunft nicht akzeptieren kann. Er kann dem anderen auf das Feld seiner Feststellungen, die wahr oder falsch sein mögen, nicht folgen, weil er es nicht darf. Er darf dieses Nichtdürfen nicht thematisieren, weil es ihn aus der Riege ernstzunehmender Wissenschaftler ausschließen würde. Hier schließt sich ein Kreis, der sich kaum aufbrechen lässt. Es bedürfte schon eines Teilchenzertrümmerers, das heißt eines Großprojekts, an dem er beteiligt wäre, um dieses Gespräch wieder flottzubekommen. Und auch das nur scheinbar, da das Projekt ihn automatisch über den anderen stellen würde. Mit einem reden und über ihn reden sind nun einmal schwer miteinander vereinbare Praktiken.

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Jordan Peterson, der kanadische Psychologe, den alle Welt kennt, weil er in einer Frage, die in intellektueller Hinsicht ›drittklassig‹ zu nennen wahrscheinlich zuviel der Ehre bedeuten würde, sich gegen einen gesellschaftlichen Modetrend gestellt hat, wird von einer Kontrollbehörde seines Berufsstandes aufgefordert, sich einem Education or Remedial Program zu unterziehen, to review, reflect on and ameliorate [his] professionalism in public statements – andernfalls laufe er Gefahr, seine Zulassung zu verlieren. Der Mensch ist berühmt für seinen professionalism in public statements, sprich: seine ›performance‹: Gerade sie hat ihm seine riesige Anhängerschaft eingetragen. Die Menschen schätzen, neben den Botschaften, die er aussendet, an ihm den Mut, auszusprechen, was vor aller Augen liegt, aber mit Sprechverboten belegt ist. Was lehrt der Fall außer ein bisschen Einsicht, wie heruntergekommen dieser Betrieb ist? Tabuwächter müssen zwanghaft wiederholen, was ihrer Rede nach gar nicht vorhanden ist. Es gibt kein Tabu, also verhängen wir ein Tabu. Es ist nicht dasselbe wie dasjenige, das nicht existiert, aber es dient dazu, zu verhindern, dass es zur Sprache kommt. Zu dem Zweck bestreiten sie das Offenkundige, das vor dem Tabu liegt und den Grund ihrer Rede bildet: Der Auftritt dieses Menschen ist verdammt gut. Das jedoch … ist kein neues Tabu, sondern lächerlich.

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Wie schützt man die Seele vor aufsteigender Kriegshysterie? Das ist eine Frage an die Psychologie, aber auch eine des gesunden Menschenverstandes. Darin liegt bereits das Problem: Schwindet die Gesundheit, kann allenfalls ein Rest von Verstand greifen. Dieser Rest braucht vielleicht Unterstützung, aber in der Hauptsache steht er allein auf weiter Flur. Außer allgemeinen Tipps wie Sauna und Entspannung in angenehmer Umgebung kommt hier die Reflexion zum Zug, also gerade das, was die Kriegsrede der Propagandamaschinen ausblendet. Das klingt ein bisschen nach dem bekannten Münchhausen-Prinzip, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Aber so funktioniert Bewusstsein. Bewusstsein lässt sich nicht reparieren. Entweder es repariert sich selbst oder die Läsion bleibt. Man kann der Kriegshysterie als Kollektivphänomen bloß durch Vergrößerung der Distanz zum Kollektiv begegnen. Der Einzelne mausert sich zum Krieger auf eigene Faust (wie neben der allgemeinen Reizbarkeit die zunehmende Bereitschaft zur Randale belegt) oder zum unabhängigen Geist – eine verbreitete, wenngleich eher unübliche Reaktion, die den Nachteil hat, dass Geist seine Beweglichkeit einbüßt, wenn die Kommunikationswege blockiert sind. Aus Nachteil wird Vorteil in Situationen, in denen nur noch Hartnäckigkeit hilft.

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Die ungeheure Gleichgültigkeit der Menschen gegen Sterben und Tod der anderen macht auch vor dem drohenden eigenen nicht Halt: Abgesehen von einem gewissen Fieber entlockt es ihnen erstaunlich wenig Einsicht oder gar Aktivität. Offenbar ist der, der stirbt (oder sterben wird), immer ein anderer, der unter den Satz fällt: Alle Menschen sind sterblich. Insofern ist die Phrase vom Feigling, der, anders als der Mutige, viele Tode stirbt – eine Phrase. Man stirbt nur einmal und das Sterben der anderen besitzt, falls es sich nicht gerade um enge Angehörige handelt, keine Bedeutung. Unter tödlicher Bedrohung wird der Mensch zum Tier oder zum Spieler. Das Spektrum ist auf beiden Seiten beträchtlich. Frömmigkeit als dritte Möglichkeit ähnelt ersterem, wo sie zur Ergebung rät, letzterem, wo sie sich in Jenseitsspekulationen ergeht. Beides stellt den Täter unter Tabu. Alles geht von ihm aus, aber er wird unwichtig und entschwindet langsam dem Blick.

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