Ein grundlegendes Problem von Politik besteht darin, dass ihre Konzepte selten für die Probleme entwickelt wurden, auf die sie angewandt werden. Das hängt mit den langen Vorlaufzeiten in den Beschlussgremien der Parteien zusammen, die eine bestimmte Politiker-Mentalität fördern: Wirklich ist nur die Beschlusslage. Das gilt für den Bereich der Welterklärung ebenso wie für den der Konzepte. Gleichgültig, ob man etwas für die Landesverteidigung tut, indem man Versorgungsposten gegen Panzer schafft, oder ob man nach Migranten-Randale die Jugendarbeit aufstockt – man kann den Maßnahmen nicht allen Nutzen absprechen, aber sie treffen in der Regel nicht den Kern der Misere, von der man hofft, dass sie sich mit der Zeit von allein auflöst.

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Politik, das lässt sich daraus schließen, ist nicht zwingend dazu da, Probleme zu lösen. Sie verschafft ihnen Zeit – im Idealfall gerade so viel, wie sie benötigen, um sich von selbst zu erledigen. Das funktioniert in vielen Bereichen wunderbar. Vor allem die Wirtschaft profitiert davon, solange die Märkte halbwegs intakt sind. In anderen Bereichen, etwa dem der Einwanderung, entstehen daraus schwärende Wunden, von denen mit der Zeit niemand mehr weiß, wie sie geheilt werden können. Dann findet die Politik, es sei an der Zeit, den inneren Feind auszupacken, um das eigene Versagen auf ihn abzuwälzen. Wer könnte dieser Feind schon sein, wenn nicht der Bote, der das Staatsversagen mit sanften oder grellen Worten in die Öffentlichkeit trägt? So gleitet die Bürgergesellschaft ganz von selbst in die Tabugesellschaft hinüber, in der sich jeder zweimal überlegt, was er sagt und worüber er lieber schweigt.

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Entgleiste Projekte, ich schrieb es an anderer Stelle, geraten zwangsläufig in den Bann des Freund-Feind-Dualismus (oder sie werden gezielt hineingesteuert). Man richtet die unlösbar gewordenen Sachkonflikte an neuen Spannungslinien aus und sorgt so eine Zeitlang für den Schein der Lösbarkeit – Schalte den Gegner aus und alles wird gut –, bis ein neues Phänomen die Bühne einnimmt: der Kampf der feindlichen Zwillinge. Der Feind, der bitter benötigte Feind lässt sich einfach nicht ausschalten. Er ist die Gestalt, in der die Wirklichkeit sich beim Projekt zurückmeldet, und er vervielfacht sich auf jeder Stufe des Kampfes, bis jedes Glied der Gesellschaft seinen feindlichen Zwilling gefunden hat, gleichgültig, ob in den Familien, am Arbeitsplatz, in den Gremien oder an der Spitze der Parteien – soviel ›Hass‹ muss sein. Ob Freund, ob Feind, sie alle sind ›erschrocken‹ und ziehen, vom Gesetzgeber angeleitet, ›wider den Hass‹, in Wahrheit gegen die Verhassten zu Felde. Sähen sie nur genauer hin, so wüssten sie, dass ihr Kämpfertum gerade das einebnet, was in der Sache strittig sein müsste, wollte man den Karren noch gemeinsam aus dem Dreck ziehen. Doch das kommt nicht in Frage.

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Ich nenne diesen Prozess der gesellschaftlichen Desintegration ›Excess‹. Er ist kein Exzess im üblichen Sinn des Wortes, aus dem man mit einem mittelschweren Kopfschmerz und leichten Orientierungsproblemen erwacht. Im Prozess des Scheiterns bezeichnet er das Stadium, in dem der Gesellschaft der Sinn für die gemeine Sache abhanden kommt. Das Schwinden von Loyalitäten, der Verlust des Respekts vor Positionen, die Dehumanisierung des Gegners, ein genereller Achtungsverlust gegenüber dem Anderen und der Person als solcher sind die üblichen Kennzeichen dieser Phase. Sie reden von Gemeinschaft und meinen das krasse Ich. Der Einzelne, der sich bedeckt hält, sieht sich in eine Gesellschaft von Rüpeln geworfen und spürt die Versuchung mitzurüpeln, wann immer sich Gelegenheit dazu ergibt. Wer heute einen Blick auf die mit soviel Freiheits-Elan gestarteten sozialen Medien wirft, weiß, wovon ich rede. Aber sie sind nur Brennspiegel des Geschehens, nicht das Geschehen selbst.

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Oberflächlich betrachtet, vollzieht sich der Excess an den Rändern der Tabugesellschaft. Da ist der brave Bürger-Wunsch Vater der Wahrnehmung. In Wahrheit gerät sie überall an ihre Ränder. Die gute, soll heißen, die Kontrolle ausübende Gesellschaft ist die hysterische Gesellschaft – untrügliches Kennzeichen: die Dreistigkeit, mit der ihre Ausputzer selbst über das Wort ›Hysterie‹ ein Tabu zu breiten versuchen, als ließe sich dadurch auch nur ein Splitter der Wirklichkeit bannen. Insofern das Tabu in jedem Einzelnen arbeitet, trägt jeder den Feind in sich, bereit, ihn in jedem wiederzuerkennen, der eines der öffentlich ausgegebenen signa trägt. Der verinnerlichte Feind, das heißt, man selbst ist das Muster aller Feinde, die sich draußen in der Realität auftreiben lassen. Die meisten davon kennt man überhaupt nicht, schon gar nicht persönlich, jedenfalls nicht in dem Ausmaß, dass man sich ein Urteil über sie anmaßen dürfte. Das Urteil ist fix und fertig, es sucht sich seine Opfer und findet sie prompt. Geliefert wird es von den Medien und einer Öl ins Feuer gießenden Politik.

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Die Mediendominanz der selbstreferenziellen ›Eliten‹ ist eine Scheingröße. Das wird sichtbar, wenn man die Medien unter die Lupe nennt, in denen sie dominieren. Es handelt sich um die allmächtigen Adressen verflossener Zeiten, deren Publikum rapide altert und schwindet, deren Glaubwürdigkeit auf einen historischen Tiefpunkt gesunken ist und deren wachsende Abhängigkeit von fordernden Akteuren den Qualitätsjournalismus, für den sie zu stehen behaupten, zur Farce werden lässt. Das heißt aber nicht, dass ein Beobachter ihre informelle Macht über die andere Seite unterschätzen dürfte. Wie immer steht auch hier das Alte für Ordnung schlechthin und das Neue beeilt sich zu versichern, die Welt sei aus den Fugen, weil die andere Seite sie höchst tendenziös abbilde und damit ihre Informationspflicht verletze. Das eine ist so wahr wie das andere. Nur die Verknüpfung ist falsch. Wo die neuen Medien – die sich die ›alternativen‹ nennen – gefordert sind, stehen die anderen vor dem Aus des in den Aufbaujahren errichteten Monopols. Das Scheitern des Projekts immerwährender Meinungsführerschaft wird mühsam vom Freund-Feind-Aktionismus überdeckt, durch den sie zu Akteuren des mentalen Bürgerkriegs, des Kriegs um die Köpfe werden, in dem die Angegriffenen und Ausgegrenzten nur gewinnen können, auch wenn der Einsatz hoch ist und der Schutz, den das Recht bietet, Löcher aufweist.

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Jeder, der es wissen will, weiß heute mehr über die Verknüpfung von Interessen und Informationen als zur Zeit eines Udo Ulfkotte. Und, was vielleicht wichtiger ist: Diejenigen, die nicht wollen, wissen, dass sie nur wollen müssten. Sie wissen, dass die Informationen öffentlich abrufbar sind. Natürlich wissen sie auch – gleich Generationen Wissender vor ihnen –, dass Information und Desinformation selten säuberlich getrennt zu erlangen sind. Aber es ist ihr Wille und ihr Entschluss, sich vorsichtshalber von beidem fernzuhalten. Ein so weitreichender Entschluss trifft sich nicht leicht. Er steht unter dem Diktat der Angst, auf die falsche Seite zu geraten. Das heißt, er steht unter dem Primat des Excesses. Im Wüten der Zwillingskonkurrenz wird der Abstinente in gleichem Maße Partei, wie er sich von ihm fernhalten möchte. Warum? Weil er der Desinformation keinen Widerstand entgegensetzt. Er salviert sein Gewissen durch einfaches Geltenlassen und überlässt es den aktuellen Informationsverhältnissen, dafür zu sorgen, dass er überhaupt etwas meint. Gehört er zur ›geistigen‹ Elite, dann mutiert sie in ihm und seinesgleichen zur falschen Elite, die abnickt, was andere über sie verhängt haben. Und nicht nur das: Er gehört zu denen, die den falschen Schein erzeugen helfen, hier stünde Mehrheitsmeinung gegen die Meinung einer verschwindenden, aber gefährlichen Minderheit. Die Gefahr, um die es da geht, ist intrinsisch: Wer sich auf die Argumente der anderen einlässt, ist schon verloren. Ist er verloren oder hat er verloren? Schon das ergründen zu wollen scheint heikel.

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Bedeutet das Gesagte, dass sich hier annähernd gleich starke Kräfte gegenüberstehen? Ja und nein. Wo jeder seinen Zwilling findet, darf eine gewisse Parität als gegeben betrachtet werden. Andererseits bleiben die Erzählungen der Herrschenden die herrschenden Erzählungen. Warum? Sie haben das Tabu auf ihrer Seite. Die Tabuisierten müssen damit rechnen, dass in der Tabugesellschaft auch Recht und Gesetz ihre Verlässlichkeit einbüßen. Richter sind auch nur Menschen. Selbstverständlich lastet das Tabu auch auf ihnen – und damit das anonyme Verdikt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Auch sie sind Zwillinge, auch sie tragen den Feind im Leib, längst bevor er ihnen leibhaftig als Untersuchungshäftling oder als Angeklagter gegenübertritt. Die einen wissen es, die anderen wollen nichts davon wissen. Allein die Wissenden besitzen die Freiheit sich zu entscheiden. Das reduziert die ethische Kompetenz in der Gesellschaft beträchtlich. Das Tabu, so lässt sich folgern, veräußerlicht die Moral, es entprotestantisiert sie. Das sollten die Vertreter des Protestantismus ›auf dem Schirm‹ haben, bevor sie sich bedenkenlos an die Wonnen des Konformismus ausliefern. Dieser Konformismus läuft auf nichts Gutes hinaus. Kirche ohne Wahrheit ist tot.

 

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