Es würde mich nicht wundern – nein, alles zurück, es wundert nicht, dass die Bemühungen politischer Ratgeber, das einzig feste, unverrückbare Fundament politischen Handelns aus dem Schlamm unter- und übergehender Ideen und Identitäten herauszubuddeln, von ebenso viel, wenn nicht mehr Skepsis begleitet werden als die umgebende business-as-usual-Politik, die nicht selten gerade ihren prominenten Vertretern verantwortungslos, wenn nicht verächtlich erscheint. Warum das so ist? Nun, Religion, Ethnie, Kultur, Reich, Nationalstaat, Weltkonzerne, Ideen- und Menschenrechts-Hegemone – sie alle hatten ihren historischen Auftritt und nutzten die Gelegenheit, sich dem realen Dasein der Menschen und der Menschheit einzuprägen; es würde etwas fehlen, wenn eines von ihnen eines Tages spurlos vom Antlitz der Erde verschwände, was nicht der Fall sein wird. Beispiel Russland, das nach wie vor als Reich existiert, nachdem es den ideologischen Probierstaat genossen hat, um in einem wahren Taumel hintereinander binnen weniger Jahre ökonomischen Liberalismus, religiösen Erweckungs-Fundamen­talismus, Ethno-Nationalismus, regionale Hegemonie- und erneuerte Weltmacht-Ambitionen durchzuspielen…

Beispiel Europa, das, bei aller Arroganz der Welt- und Selbstbeschreibung, von der Vorstellung besessen ist, in diesem Jahr oder im nächsten oder im nächsten Jahrzehnt gegen die Wand zu fahren, ohne sich darüber einig zu sein, welcher Fahrer sich da welche Wand als Ziel ausgesucht haben mag. Ist der Nationalstaat Europas Zukunft oder sein Verderben? Was immer er sein mag, er ist nicht die Lösung, behaupten eingefleischte Europäer, aber die Zivilisation, die europäische Zivilisation oder gleich das Abendland, das freilich … ganz recht, von jeder Seite in Anspruch genommen wird, weil es ohnehin darum geht, sich die passenden Brocken auszusuchen – die Zivilisation also, wenn nicht gleich die Kultur, soll es richten. Sie hat es bisher gerichtet, vor allem nach blutigen Niederlagen, nach allen Brüchen, die ihr zugefügt wurden, nach aller erfahrenen Ohnmacht… Ist das der Stoff, auf den sich bauen lässt? Zweifellos lässt sich auf Kultur weder bauen noch wetten. Sie setzt sich bloß immer wieder durch. Doch ein Ewigkeitsmerkmal ist das nicht.

Ein ›geistiger‹ Kontinent, der seine Entzauberung ebenso hinter sich hat wie der politische, um vom menschlichen nicht zu reden, seine Zerstörung und Depotenzierung, krümmt sich zurück auf just den Satz an alten Rollen, dem er lauthals vor sich und den anderen abschwört, und verschreit sich dabei selbst. Aber eigentlich hängt er am Tropf der US-amerikanischen Kultur­industrie und nimmt sich nicht einmal mehr die Mühe, die einströmenden Erregungs­wellen verbal und mental auf das eigene Gelände abzustimmen. ›Europa‹ ist eine Gespensterlandschaft, in der ein Schatten für die Sache gilt und die Sache für den auszutreibenden Dämon. Es gehen viele Gespenster um in Europa. Sie reklamieren, jedes für sich, die Zukunft aller, dabei dienen sie nur als Leuteschreck. Die erstaunlichste Metamorphose hat die Linke hingelegt, deren Überweisungs­sozialismus die Interessen des siegreichen Kapitals umdienert, als seien es bereits die eigenen. Aber besser, ernsthaft besser, sind die anderen auch nicht. Es ist Zeit, sich an den wirklich freiheitlichen Kanon zu halten: Vertraue keinem Urteil und sei es das eigene. Schiebe jeder Tendenz den Riegel vor, die dir suggeriert, dein Urteil sei bei ihr in den besten Händen oder gleich gar nicht vonnöten. Sei kein Narr, der glaubt, eine Organisationsform oder eine Überzeugung könne ihn erlösen oder die Sorge ums Dasein vertreiben. Lass niemanden dein Leben gestalten, es sei denn, du hättest ihn selbst damit beauftragt. Dann allerdings… Wovon reden wir denn, wenn wir reden? Woraus reden wir?

 

Notizen für den schweigenden Leser

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