In Persecution and the Art of Writing, einem erstmals 1941 publizierten Essay ( wieder abgedruckt im gleichnamigen Buch von 1952), stellt der damals frisch nach Amerika übersiedelte konservative Gelehrte Leo Strauss die These auf, dass erst mit dem Eintauchen in neue Verfolgungskonstellationen die entscheidenden Botschaften der überlieferten Literatur wieder lesbar würden, soweit sie, wie bis ins neunzehnte Jahrhundert üblich, unter Verfolgungs- und Zensurbedingungen entstand. Die liberale Öffentlichkeit hat es nicht nötig, zwischen den Zeilen zu lesen. Also existiert diese Sinnebene für sie nicht. Sie bügelt sie als Projektionsfläche für wilde Hypothesen weg und erzeugt auf diese Weise ›stimmige Texte‹. Erst dem Verfolgten, heißt das, eilt das Vermächtnis der Kultur zu Hilfe. Den Interpretationsarmeen des kulturwissenschaftlichen Betriebs wird es auf ewig verschlossen bleiben. Bleibt die Frage, wer mit einigem Recht als verfolgt betrachtet werden darf. Für Strauss reicht die Bandbreite realer Verfolgung von der spanischen Inquisition bis zum sozialen Ostrakismos. Verfolgt ist der Zensierte. Dabei sagt die Zensur selten: ›Ich bin die Zensur.‹ Eher zeigt sie sich als Freundin der Wahrheit und nichts als der Wahrheit: ›Vertrau mir, ich werde dir helfen, sie zu finden.‹ Zensiert ist der, dem plötzlich die Augen übergehen, so dass er zwischen den Zeilen der Klassiker zu lesen beginnt, als finde er dort seine eigenen Überzeugungen und sein Schicksal. Wie gesagt, ein Text von 1941; man liest ihn heute mit anderen Augen als noch vor wenigen Jahren. Das gilt nicht nur für ihn. Wer heute die Klassiker aufschlägt, der liest sie mit heimlichem Trotz, mit wachsendem Widerwillen, sie in die allgemeine Bibliothek zurückzustellen, in der sie als Eigentum aller der Gleichgültigkeit Profilsüchtiger preisgegeben sind. Tief in seinem Inneren beginnt er sie zu schützen – sonderbarerweise, da sie ohne allen Schutz Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte des Exils überdauert haben. Der aufglimmende Beschützerimpuls bei Menschen, die selbst bald zu den Schutzbedürftigen zählen werden, gehört zu den rührenden, dabei untrüglichen Merkmalen der beginnenden Repression. Noch ist alles ungewiss, kaum glaubhaft, es darf gestritten werden – es darf doch … alles… Wer sich da einen ›breiteren Korridor‹ des Erlaubten wünscht, am besten zurückwünscht, der ist schon vor längerer Zeit von der Straße der Freiheit abgekommen, ohne der neuen Freiheit der Klassiker einen Millimeter näherzutreten. Auch seine Geschichte wird einmal zwischen den Zeilen zu lesen sein, vorausgesetzt, dass sie dann noch jemanden interessiert.