Ein Historiker tourt durch die Bürgersäle und ›klärt auf‹. Das heißt, er pickt sich die großen Kriminalfälle der Geschichte heraus und spielt das alte Spiel: Wer war’s? Wer war’s wirklich? Sein wirkliches Publikum, die Zugriffszahlen beweisen es, sitzt am Bildschirm. Es ruft seine Videos auf, wann immer es das Bedürfnis anwandelt, schräge Theorien zu konsumieren. Warum schräg? Weil – so der Hintergedanke beim seriösen Teil des Publikums – ein seriöser Professor in den Hörsaal gehört und nicht ins Allerweltsmedium Internet. Dennoch bleibt es eine Weile bei der Stange… Es gibt immer Zuschaun, wie Rilke schreibt. Es ist spannend – und ›lustig‹ –, den Ausführungen eines Menschen zu folgen, der sich aus dem Fenster lehnt, solange … sie unterhaltsam bleiben. Vor dem Hintergrund einer Zunft, die sich eher bedeckt hält, hebt sich seine Gestalt für die einen als Lichtgestalt ab, für die anderen als Ärgernis, das sie am liebsten ausreißen möchten.

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Der Mann ist unterhaltsam. Er ist das, was man einst einen ›Entertainer‹ nannte und heute vermutlich einen ›Influencer‹. Seine Rede fließt, ein kontinuierlich-diskontinuierlicher Strom, in das kurrente Gedankengut der Sprachnation ein und beeinflusst so das Annahmen-Geflecht, aus dem sich ihr Weltgefühl speist. Jeder, der sich für aufgeklärter hält als seine Mitmenschen, verfügt über ein Bündel solch ›illegaler‹, sprich: mit dem Stempel zweifelhafter Seriosität versehener Quellen und hütet es wie einen geheimen Schatz, über dessen Erwähnung im Beisein anderer er lächelnd oder lästernd hinweggeht. Und wirklich, er darf sich für aufgeklärter halten. Es gibt keine Regel des Wissenserwerbs, die es ihm verbieten würde, bloß Mitmenschen, die es ihm gern verbieten würden. Sie machen Druck, diese Mitmenschen, darin sind sie geübt. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, aber er ist da. Hörbar ist nur das Gekreisch, das den da umgibt.

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Die Rede vom ›Bündel‹ muss überprüft werden. Genau genommen handelt es sich um kein Bündel, sondern um eine nicht-distinkte Menge von Informationen, deren Ränder verschwimmen und deren Zusammensetzung und Gewichtung sich ununterbrochen verschiebt. Sie bildet den Untergrund, auf dem die ›offiziellen‹ Geschichtsversionen wie steuerlose Geisterschiffe umhertreiben, immer in Gefahr, an unsichtbaren Hindernissen zu scheitern, um sich auf wundersame Weise wieder zusammenzufügen. Das Netz hat diesen Dualismus schwarzer und weißer Informationsmagie nicht erschaffen, aber es hat ihm, nach all den seit der Aufklärung verstrichenen Jahrhunderten, eine feste Form verschafft – und die passende Rhetorik dazu. Natürlich ist es blanker Unsinn, ›das Netz‹ als unseriöse – oder unsaubere – Quelle zu bezeichnen – aus dem einfachen Grund, weil es gar keine Quelle darstellt, sondern allenfalls eine riesige Quellensammlung. Und auch das ist, legt man nur die konventionelle Historiker-Unterscheidung von Quellen und Darstellungen zu Grunde, so nicht richtig. Die Realität des Netzes ist eine andere: Es gilt die ›Adresse‹, und wer sich in der Adresse irrt und statt vor dem angepeilten Bankschalter beim Metzger nebenan landet, der hat sich verirrt und sollte dafür nicht das technische Medium verantwortlich machen.

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Natürlich ist so ein Auftrittskünstler ›Verschwörungstheoretiker‹. Er selbst weist lächelnd zu Beginn seines Vortrags darauf hin. Er ist ›umstritten‹, das gehört zum Geschäft. Ihm zuzuhören erfordert Mut: den Mut des Nichtkonformen, der sich nicht mit Einheitskost abspeisen lässt und dafür glänzenden Blicks gelobt werden möchte. Ich bin dein Fan. In einer Welt der vertraulichen Absprachen steht hinter jedem kriminellen Ereignis eine Verschwörung: Diese Menschen werden ja nicht hingegangen sein und ihre Pläne öffentlich angeschlagen haben. Vertrauliche Absprachen zum Zweck der Ausführung eines Verbrechens nennt man ›Verschwörung‹. Das ist einfach so und deshalb ist der Vorwurf ›Verschwörungstheorie‹ weniger aus der Luft gegriffen als vielmehr selbstentlarvend: Irgendjemand möchte nicht, dass die Sache ans Licht kommt. Erweitert: Jemand möchte immer, dass eine Sache nicht ans Licht kommt (oder, falls bereits geschehen, an die große Glocke gehängt wird). Natürlich fragt man sich, was aus Medien geworden ist, die just diesen zu ihren Lieblingsvorwürfen zählen. Die Frage ist müßig – oder rhetorisch –, sie gehört, wie alles andere, zum Geschäftsmodell.

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Man nobilitiert eine Nachricht, indem man sie mit dem Stempel ›unterdrückt‹ versieht. Sie gewinnt an Gewicht, sie wirkt bedeutsamer, ja bedeutender und sogar ein wenig gefährlich, so als finde hier ein Spiel mit dem Feuer statt und keiner weiß genau, ob er gerade als Brandstifter, Gaffer oder Feuerwehr unterwegs ist. Niemand, auch kein ›seriöser‹ Historiker, ist gegen diesen Mechanismus gefeit. Ihm – oder dem Verleger – bleibt nur die Wahl, den eigenen ›Diskurs‹-Beitrag als ›Standardwerk‹ zu vermarkten oder als Aufdeckung der allzu lange verborgen gebliebenen wirklichen Zusammenhänge und damit entweder als zitabler Langweiler oder als Verschwörungstheoretiker wider Willen in die Annalen des Vergessens einzugehen. Das lässt die Frage »Wie war es denn nun wirklich?« als Geisterfrage zwischen die Fronten geraten. Wirklich – im Sinne der Überprüfbarkeit – ist in diesem Spiel nur die Quellenlage, die wiederum von gewöhnlich unsichtbarer Hand, also von Macht wegen, durch Freigabe oder Nichtfreigabe der Dokumente manipuliert wird. Da bleibt fast immer Spielraum und deshalb erweist sich das Netz, in dem vieles kursiert, was nicht verifiziert werden kann, letztlich als faszinierender und damit stärker als jede auf Seriosität pochende Darstellung. Das Netz, heißt das, und die umlaufende Überzeugung, dass man die Wahrheit der Macht entreißen muss, sind nicht voneinander zu lösen.

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Nobody knows – jeder ›Nobody‹, so muss man das wohl verstehen, ist durch den Stand der Technik in die Lage versetzt, den Wissenskosmos zu revolutionieren oder zumindest in emsiger Bewegung zu halten, und die Institute, geschaffen, als Fels in der Brandung die Spreu vom Weizen der Erkenntnis zu sondern, tanzen auf dieser Flut. Manche von ihnen verfügen über tief ins Ungewisse hinunterreichende Kiele, andere laufen bereits in seichtem Gewässer auf Grund. Das erinnert an die Fabel von den Sirenen, welche die Schiffsmannschaften ins Unglück locken, und die List des Odysseus, seinen Leuten die Ohren mit Wachs zu verschließen, aber selbst das Privileg in Anspruch zu nehmen, offenen Ohres die Unheilstätte zu durchfahren. Allerdings war er vorsichtig genug, sich am Mast festbinden zu lassen, um sich zu keinen fatalen Handlungen hinreißen zu lassen. Man möchte wissen, ob er auch klug genug war, sich den Mund verbinden zu lassen. Doch darüber schweigt der Heros sich aus. Das wiederum erinnert an die heutige Politikergeneration, der keine Bemerkung zu platt oder deplatziert vorkommt, um sie nicht stante pede unter die Leute zu streuen. Aber es sind nicht die Bemerkungen, welche den Menschen zu schaffen machen. Jedenfalls nicht wirklich.

 

Notizen für den schweigenden Leser

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