Gut / schlecht, gut / böse – wo liegt der Unterschied? Schlecht ist die Sache, böse die Tat. Aber so ganz stimmt das nicht. Eine schlechte Tat ist etwas anderes als eine böse Tat. Eine schlechte Tat ist eine schädliche Tat, böse hingegen eine Tat, die in schädigender Absicht begangen wird. Das böse Tun wäre demnach eine Teilmenge des schlechten. Aber: so einfach liegen die Dinge nicht. Was in Bezug auf die Tat (oder das Tun) unproblematisch erscheint, kompliziert sich, sobald die Begriffe mit Menschen verrechnet werden. Ein schlechter Mensch? Ein Mensch, der gern Schaden anrichtet. Wie soll das anders geschehen als absichtlich? Andererseits: ein schlechter Arbeiter richtet in der Regel nicht willentlich Schaden an – er arbeitet einfach schlecht, das heißt ineffizient. Es gibt aber keinen Effizienzquotienten fürs Menschsein. Ein Mensch ist ein Mensch. Punkt. Ohne schädigende Absicht ist hier nichts zu vermelden.

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Dann wäre also der schlechte Mensch der böse? Hier kräuselt sich die Stirn und die Lippen beben. So einfach ist das nicht. Sind Max und Moritz, die Lieblingsfiguren unserer Kindheit, schlechte Menschen? Der harsche Schluss der Geschichte legt es nahe, aber nicht zwingend: Sie sind eben böse Buben. Der Ausdruck erheitert und erinnert an die bösen Mädchen, die bekanntlich überall hinkommen, wenn auch nicht gerade in den Himmel. Ungetrübt ist die Heiterkeit nicht. Etwas Angelerntes ist dabei, eine gesellschaftlich vorgeschriebene Pose. Bloß die Kinder freuen sich diebisch. Das hat etwas mit Spannungsabbau zwischen den Generationen zu tun.

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Dabei steht, was die Streiche der bösen Buben angeht, die schädigende Absicht außer Zweifel. Aber sind sie auch böse? Kann, was sich in Gelächter auflöst, böse sein? Schlecht sind sie allemal, daran besteht kein Zweifel. Es handelt sich auch, selbst nach erwachsenen Maßstäben, nicht um Neckereien. Aber als Streiche unterliegen sie einem besonderen Maßstab: Wer sie völlig ernst nimmt (was angesichts des bedenklichen Ärgers mehr als verständlich wäre), der verkennt ihren, bei allem Drang, Schlimmes zu tun, spielerischen, also unernsten Charakter. Oder er verweigert ihm die Anerkennung – normalerweise nennt man das: auf den Falschen treffen. Die bösen Buben, so schlimm sie ihren Opfern auch mitspielen, sind nicht wirklich böse. Warum werden dann gerade sie mit Lust und Inbrunst böse genannt? Weil … nun, weil es den Lachmuskel reizt, gerade sie böse zu nennen. Bubenstreiche… Es liegt eine Spannung in dem Wort ›böse‹, die sich im Unernst der Zuschreibung löst. So sieht es aus.

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Wer das Wort ›böse‹ ohne den leisesten Hauch von Unernst verwendet, also ›bitterernst‹, der kann es nicht vermeiden, selber ›böse‹ zu wirken. Wer einen Menschen böse nennt, fügt ihm Böses zu und will es auch. Dieses Böse, das da zwischen den Parteien auftaucht, lässt sich nicht auf eine Partei beschränken, es greift nach allen Beteiligten, es zeigt einen ›fressenden‹ Charakter und gleicht darin dem Feuer, mit dem es seit altersher in Beziehung gebracht wird. Der mythische Ort des Bösen ist die Hölle, sein populäres Sinnbild das Höllenfeuer. Man nennt einen Menschen nicht ohne Not böse. Es liegt eine Grenzüberschreitung darin, die wohl überlegt sein will, weil sie einen selbst und die Gemeinschaft in Gefahr bringt. Dort, wo sie nicht mehr empfunden wird, ist die Bedeutung des Wortes erloschen oder der moralische Sinn bereits so abgestumpft, dass die Grenzüberschreitung zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat.

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Das besitzt einen sprachlogischen Grund. Wer einen Menschen ›böse‹ nennt, der trifft nicht nur eine Aussage, sondern er fällt einen Richtspruch: Dieser Mensch ist (sei) verworfen. Der böse Mensch ist ›verworfen‹. Der verworfene Mensch trägt das Mal des Bösen. Er ist gezeichnet. Über Verworfenheit zu urteilen kommt dem unter christlichem Vorzeichen lebenden Menschen sensu stricto nicht zu: Gott allein ist es, der erwählt und verwirft. Ein Mensch, der aus eigener Vollkommenheit den göttlichen Richtspruch verkündet, stellt sich zwischen Mensch und Gott.

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Das aber ist, unter Menschen und in den Bezirken des Mythos, alles andere als eine komfortable Lage. Die Scheu der an diesem Vorgang Beteiligten ist nur allzu verständlich: Sie wollen wissen, was die Anmaßung rechtfertigt, die im Verwerfen liegt. Nicht theoretische Neugier liegt dem zu Grunde, sondern ein mehr oder weniger klares Bewusstsein davon, dass sie selbst in den Handlungskreis hineingezogen werden, der sich hier auftut. Sie wollen wissen, ob die moralische Entschiedenheit dessen, der das Urteil verhängt, reell oder erschlichen ist: In ersterem Fall ist ihm Folge zu leisten, in letzterem ist der Verdammende selbst der zu Verdammende. Verdammung (oder Verwerfung) ist also, gleichgültig, wie man es dreht oder wendet, ein kollektiv zu verhängendes Urteil – das Urteil der Gemeinschaft. Dass als letzte Instanz hier Gott – oder die Scheu vor dem Heiligen – ins Spiel kommt, zeigt, wie verzweifelt ernst die Sache zu nehmen ist und wie wenig den irdischen Instanzen dabei zu trauen ist.

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Einen Menschen böse zu nennen fällt unter die klassischen Versuchungen. Der Satz ›Widerstehe dem Bösen‹ gilt auch und gerade an dieser Stelle. Ein religiöses – oder pseudoreligiöses – Amt ist hilfreich, wenn es um Akzeptanz geht. Doch auch dort, wo es vorliegt, bleiben die Zweifel und der Widerwille gegen die angemaßte Verdammung bestehen. Jedenfalls gilt das, solange der Einzelne bei klarem Verstand ist und sich ein eigenes Urteil bewahrt. In der Masse, im ›Mob‹ kehren sich die Verhältnisse um. Da genügt ein Ruf und die Jagd auf den Gezeichneten beginnt. Das ist nicht christlich, es ist primärreligiös. Es entstammt dem Umkreis des Menschenopfers. Der als ›böse‹ gebrandmarkte Mensch wird aus der Gemeinschaft ›herausgenommen‹, auf dass die Gemeinschaft lebe. Nur eine radikale Umkehr der Wertungen kann ihn – oder sein Andenken – in die Gemeisnchaft zurückführen – als Held.

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Wie präsent ist dieser Ideenkreis in einer radikal säkularisierten Gesellschaft? Er ist sehr präsent, aber er bleibt mehr oder weniger stumm. Er ist lebendig in der Absage an ›pfäffische‹ Urteile und pfäffisches Gebaren insgesamt, sobald es die Schwelle zur Lebenswelt überschreitet. Die säkularisierte Gesellschaft zweifelt nicht (oder in den seltensten Fällen) daran, dass es ›das Böse‹ gibt. Aber sie verbannt die Reflexion darüber in die Kirchen, soll heißen in den Bezirk ritueller Andacht. Dort, wo sie diesen Raum verlässt und, etwa bei Teufelsaustreibungen oder in Fällen von Lynchjustiz, handgreiflich wird, schreitet der Staat ein und verhindert den Übergriff. Wer gibt ihm dieses Recht? Zweifellos der Geist der Gesetze, der das Individuum vor den Übergriffen der ›Gemeinschaft‹ und ihrer angemaßten Vertreter zu schützen befiehlt, allerdings nicht ohne dass hier die lange und komplizierte Vorgeschichte des Streits der ›Gewalten‹ und der Prozess der Säkularisation als solcher ins Spiel käme. Man kann es also mit Fug eine zivilisatorische Errungenschaft nennen – eine von denen, mit denen der Mensch sich vor sich selbst zu schützen gelernt hat. Dieser Schutz ist und bleibt, wie alle ganz gut wissen, brüchig. Das allein macht ihn kostbar.

 

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