Wie böse ist böse? Die Frage klingt absurd, aber nur auf den ersten Blick. ›Böse‹ ist ein Allerweltswort, das oft genug gedankenlos angewendet wird, aber keineswegs beliebig: Es besitzt einen scharf umrandeten emotional-assoziativen Kern, der niemals verlorengeht. Ein falscher Wortgebrauch würde den Nicht-Muttersprachler gnadenlos bloßstellen. Dieser Kern aber ist in sich komplex. Theologen und Psychologen mögen Definitionen und Theorien des Bösen auffahren, doch alles ist verlorene Liebesmüh’: Das Wort trotzt aller ›Aufklärung‹. Natürlich ist der böse Wolf nicht böse. Er ist eine Märchenfigur, tief eingesenkt ins menschliche Gemüt. Ein Wolfsblick und im ›aufgeklärten‹ Erwachsenen stellt sich das ›Märchen‹ spontan wieder her – älter und jünger als alle Aufklärung. Es gibt Tiere, vor denen empfinden die Menschen eine tiefe Scheu: Sie sind ihnen unheimlich, so wie ihnen das Menschlich-Böse unheimlich ist.

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Die Theologen haben das Böse nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, es auszurotten. Nicht jede Verballhornung der elften Feuerbach-These erweist sich als sinnfrei. Die Ausrottung des Bösen ist ein Programmpunkt bei der Verwissenschaftlichung der Welt. Was die Scheiterhaufen der Inquisition nicht schafften, übernimmt die Aufklärung: Kein Tier ist böse. Einfache Folgerung: Kein Mensch ist böse. Wer im Käfig der Triebe gefangen ist, der ist nicht verantwortlich für sein Tun. ›Verantwortung‹ ist das Mantra der Aufklärung und der Letztverantwortliche ist der Aufklärer selbst, denn er weiß – anders als das unverständige Tier oder der unbedarfte Mensch – Bescheid. Um den Menschen den Bösen nicht ganz zu nehmen, setzt man das Böse an seine Stelle. »Das Böse, ah!« An dieser Stelle schweigt der Mensch und blickt in sich. Wo steckt es, das Böse? Manche behaupten, es stecke in der Brieftasche oder liege auf der Bank. Das ist Geschmackssache. Das Böse ist die entpersonifizierte Schwundform des Bösen.

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To make the world a better place – für die Menschheit? Für Flora und Fauna? Für die ›Biosphäre‹, die keine Probleme mit sich besitzt, wenn der letzte Mensch gegangen ist? Das Drohnenprogramm des Präsidenten, der mit diesem Wahlspruch antrat, spricht eine deutliche Sprache: Es ist nötig, die Bösen auszurotten, soll die Welt ein ›better place‹ werden. Da melden sie sich pünktlich zurück, die Bösen, sie vermehren sich wie die Karnickel, ist man erst einmal auf der Pirsch. Ist die erste Reihe niedergemäht, kommt die zweite dran undsofort: Es ist ein Schnitter, der heißt Tod. Sollen die Guten die Welt beherrschen, ist es nötig, dass einer den Erzbösewicht gibt. Seine Anhänger finden sich überall. Kehre den Stein um und du siehst ihr Gewimmel, denn sie fliehen das Licht. Wovor dem Privatmenschen graust, das gilt als ganz normal, begibt man sich in die Sphäre der Politik. Hier ist das Böse ein operativer Begriff. Irgendein Metaphysiker findet sich immer, der mit seinen Konstruktionen den Handelnden Legitimation verschafft. Denn darauf läuft es am Ende hinaus: auf Legitimation der Guten (und ihrer ›legitimen Interessen‹).

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Was ist ›bitterböse‹? Der Ausdruck geht auf den Überernst des Menschen, der in seiner strafenden Aufgabe aufgeht. Der Strafende geht in den zu Bestrafenden über, er trägt den Kampf zwischen Gut und Böse in sich aus, indem er kein Ende des Strafens findet. Das ist, wie der daneben stehende Mensch bemerkt, ›eine böse Sache‹. Es ist das Gesicht, genauer, der Gesichtsausdruck des Strafenden, der den Übergang anzeigt. Man nennt, was sich da zeigt, den Rausch des Bestrafens, der als Strafrausch auf den Delinquenten übergehen kann. ›Strafsucht‹ gehört zu den von Haus aus doppelsinnigen Wörtern: Im Wunsch, ›das Böse‹ auszurotten, kommen Strafender und Bestrafter zusammen. Er ist ihr ›Gemeinsames‹. Auch Gesellschaften können strafsüchtig werden – in der einen oder anderen Form. Der fressende Charakter des Bösen beweist sich in der Ausrottung des Bösen ›mit Stumpf und Stiel‹, die doch nur Phantasie bleibt – irgendwann verfliegt der Rausch, die Gesichtsröte schwindet, die Erde mit ihren Pros und Kontras hat die Beteiligten wieder. Doch das kann dauern.

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Man kann sich auf den Standpunkt stellen: Wer böse ist (wirklich böse…), das entscheidet allein Gott. Aber dann muss man sich auch daran halten. Das ist natürlich extrem unbefriedigend und Fromme aller Zeiten, die mit diesem Begriff hantierten, haben sich und ihresgleichen ein Exklusivwissen ausbedungen. Oder sie haben behauptet: Das sieht (weiß, empfindet etc.) doch jeder. Dann aber muss man jedermann aufs Maul schauen, statt es ihm zu verbieten. Auch das ist – zutiefst – unbefriedigend. Irgendein Privileg muss schließlich dabei sein. Man kann die Existenz des Bösen bestreiten (dann ist eben der Glaube ans Böse … böse), aber man kann es nicht aus der Welt schaffen. Klingt irgendwie komisch, aber es ist so. Man kann ein Exklusivwissen vom Bösen behaupten und im gleichen Atemzug die Augen fest vor dem verschließen, was in der Welt vorgeht. Man kann sich im Kampf gegen das Böse einer Bewegung anschließen, die vor keinem Massenmord Halt macht. Man kann als Wahrer des Wissens den Griff nach einer Spritze predigen, durch welche Unzählige umkommen, und anschließend schweigen … oh ja, das Schweigen ist eine wunderbare Fähigkeit, über die allein der Mensch verfügt. Der Mensch kann alles wegschweigen, was ihm nicht passt oder ihn in einem ›falschen Licht‹ erscheinen lässt. Wer will schon in einem falschen Licht erscheinen? Der Mörder? Weit gefehlt. Auch er will privilegiert sein. Die Bösen, das sind immer die anderen. Die Rede vom Bösen ist ein Privileg der Guten, das jeder in Anspruch nehmen kann, den es danach gelüstet.

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Eine bitterböse Politik – was ist das? Zweifellos eine, die keinen Spaß versteht. ›Spaß‹ ist keine politische Kategorie, der Mensch hingegen … der Mensch braucht Spaß, er braucht das Als-ob, er braucht den Scherz, den Unsinn, den Witz, den Sarkasmus, die Ironie… Das alles sind keine Luxusgüter, eher ähneln sie der Luft, die der Mensch zum Atmen braucht, dem Wasser, dem täglich Brot. Untersage sie den Menschen und sie leben in bitterster Sklaverei und ihre Aufseher sind jene Menschen, die keinen Spaß verstehen. Es gibt Not- und Randlagen, in denen ihr Irrsinn zur Tugend mutiert, aber sie gehen vorbei, sie müssen vorbeigehen, wenn die Psyche aller nicht Schaden nehmen soll. Eine bitterböse Politik ist bitter und sie ist böse, sie infiziert die Bevölkerung mit dem Bösen und nährt sich von ihm in einem Kreislauf, der den Menschen hart, verlogen und zu allem fähig macht und ihn am Ende aufbraucht. Was sagt es uns, wenn KI keinen Spaß versteht? Wenn der Algorithmus, der Meinungsäußerungen verschwinden lässt und ihre Urheber vor Gericht bringt, keinen Spaß versteht? Wenn just dieser Algorithmus zum Machtmittel erster Güte avanciert?

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Was also ist böse? Böse ist die Gegen-Macht, die sich nichts abhandeln lässt (der Widersacher). Auch das ist, an der Praxis gemessen, noch nicht ganz richtig. Richtig ist, dass man ihr nichts abhandeln, sie vielmehr vernichten will. Das ist der Kern der Verrechnung: Carthaginem esse delendam. Es muss auch nicht Karthago sein. Andererseits: ein Karthago findet sich immer. Die Welt ist schlecht, damit muss man auskommen. Der Böse aber … der muss mit allen Mitteln bekämpft werden – bis zum bitteren Ende. Und dann muss Ersatz für ihn her. Denn er ist nur eine der Personifikationen des Immerbösen, der in neuer Gestalt ersteht, um immer aufs Neue vernichtet zu werden. Warum? Weil er der Vernichter ist, die lebensverneinende Kraft, vor der die Welt immer aufs Neue gerettet werden muss. Die Logik des Bösen gleicht der des zirkulären Irresein. Sie dreht sich um einen Daseinspunkt, der nicht weggehen will.

 

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