Es ist demnach ganz klar, daß die Erschließung der Welt nicht ätherisch-überzart, im ganz reinen, aber ganz flüchtigen Medium des Imaginär-Anderen als des Horizonts, vor dem unmittelbar, sofort alles potentiell in allem, mit allem – wenigstens imaginär – ganz anders wird und so, nie direkt faßbar, universale Verbundenheit vor der Konstruktion spezifischer Differenzzusammenhänge indiziert, sich bewegt und vollzogen wird, sondern daß dies handfest-real, als Selbstbehauptung, die auf Beherrschung aus ist, manifest werden muß, auch wenn diese in der falschen Neutralität bloßer Neugierde sich versteckt; denn die theoretische Neugierde ist nichts anderes als die Interpretation der zupackenden Einheit des Bewußtseins unter dem mühselig erworbenen Ideal möglicher Objektivität.
Wolfgang Marx, Bewußtseins-Welten

 

1.

Zwar haben die Intellektuellen das Jahrhundert nicht in gleicher Weise geprägt wie die Massenmörder, die Wohlfahrt und die ethnischen Säuberungen. Dennoch war es ihr Jahrhundert. Das – nennen wir es einmal so – Unbehagen in der Schriftkultur enthält die Aufforderung an sie, Abschied zu nehmen: Wovon, das bleibt die Frage. Zu viele Abschiede, zu viele Ankünfte; nicht allein Intellektuellen fällt es schwer, dergleichen noch ernst zu nehmen. Und sie passen sich an: Man kann beim besten Willen nicht mehr behaupten, dass sie es ernst meinen. Darin liegt auch ein Abschied, kein Zweifel, der langsame, von Kehrtwenden aller Art durchsetzte Rückzug aus einer Inszenierung, die vielleicht überflüssig, aber niemals langweilig war – ein Luxus, wie ihre besseren Vertreter immer gewusst haben. Ein Luxus des Subjekts, das angesichts seiner Diagnosen entweder in spröder Resignation verharrt oder als Dolmetscher von Sehnsüchten auftritt, die mit der Oberfläche der Dinge zu sehr verklebt sind, als dass ihr verstreutes Aufflackern jemals das Reich der Freiheit hätte ankündigen oder der Verwirklichung näherbringen können. Auch im brüchigen Universum der Intellektuellen hatten und haben die Frondeure des Prinzips Hoffnung einen schweren Stand. Richtig ist allerdings, dass die kluge Einschätzung des Umstands, wie schwer es fällt, alle imaginär gerichtete Hoffnung fahrenzulassen, ihnen das Überleben gesichert und sie unter Herrschaften in Gefahr gebracht hat, für welche die Überführung solcher Hoffnungen in Gegenwart beschlossene Sache war.

Beseitigen lässt sich diese Bedrohung nie. Aktuell hingegen mutet der Zwilling an, der ihr eher unvermutet erwachsen ist. Die verzweigte Realität der neuen Kommunikationsmedien, ihr enormer Ausgriff auf die gesellschaftlichen Systeme und die Lebensvollzüge der einzelnen scheint den Vertretern des Geistes nach langer spröder Reserve und heftigem Protest paradoxerweise zu einem Zeitpunkt eine überschwengliche und alles in allem eher komische Zustimmung abzunötigen, an dem die Gefahr für sie mit Händen zu greifen ist – vielleicht die giftigste aller Gefahren, denen sie sich jemals ausgesetzt fanden, weil sie in gleichem Maße von außen wie von innen kommt. Niemand verweigert sich ungestraft den Verkehrsformen des elektronischen Spektakels, niemand gibt sich ihnen ungestraft hin. Die ›frei fluktuierende‹, zwischen öffentlichem Anlass und privatem Inhalt nicht unterscheidende Rede, die den scheinbar voraussetzungslosen Austausch aller zu sichern hat und sie wohl nicht auf die Insel der Seligen, dafür der Redseligkeit entführt ›Kommt, reden wir zusammen, / wer redet, ist nicht tot‹ –, unterhält einen Mechanismus fortwährender und konsequent betriebener Kategorienvertauschung. ›Frust‹ erzeugt, wer auf dieser oder jener Unterscheidung beharrt, statt sie im Fluss der Rede – als Anmutung, die nicht zur Zumutung werden darf – gleich wieder preiszugeben. Kommt, reden wir über anderes.

Der Mechanismus wirkt sich so zerstörerisch auf die intellektuelle Selbstvergewisserung aus, weil er die Erfindung kopiert und vergröbert, von der das intellektuelle Spiel seinen Ausgang nahm, das Verfahren des Nichts-anderes-als, welches im metaphysikkritischen 19. Jahrhundert einen älteren Grundsatz beerbt: Nichts ist so, wie es scheint. Ein mehrdeutiges Verfahren, das dazu dient, einerseits den Sinn zu kupieren, wo es ihn vorfindet – ein Ritual bedeutet nichts, die Hostie ist eine Oblate –, ihn andererseits hinzuzufügen, wo eine Sprachregelung, ein Vorgang, eine Sache ohne ihn auszukommen scheinen. Wenn man – zu Recht – bemerkt, die Vorbilder dafür stammten aus der Ökonomie und den Naturwissenschaften, so muss man ehrlicherweise hinzufügen, dass eine solche Sprech- und Denkweise erst ihren ambivalenten Zauber entfalten konnte, als sie von den Restriktionen einzelner Disziplinen befreit und als universales Verständigungsmittel in Umlauf gebracht wurde.

Das Nichts-anderes-als war schon immer die bemerkenswerteste Waffe in den Händen aller, die es zum Programm erhoben, den lebensweltlichen Modernisierungsprozess gleichermaßen als fadenscheinig zu denunzieren und voranzutreiben. Marx, Nietzsche, Freud, die Großväter des modernen Reduktionismus, haben sie virtuos gehandhabt. Angesichts ihrer profil- und mediensüchtigen Erben fällt es gelegentlich schwer, auseinanderzuhalten, wo die erlernte Vertauschung endet und mit der gewollten die ungewollte beginnt. Behauptungen des Typus ›Realität ist nichts als (eine eher schlichte Form der) Simulation‹ lassen sich, wann immer es drauf ankömmt, mühelos mit Phrasen aus der popularphilosophischen Mottenkiste des Jahrhunderts unterlegen. Wer widerspricht, hat gegen die Phalanx der Belesenen einen schweren Stand. Sieht man näher hin, so steckt die Differenz in der Leugnung der Differenz: Vergesst den Unterschied von Realität und Simulation and you may feel happy. Ohne den Glücksappell wäre der Satz nicht allein grotesk – was seine Liebhaber verschmerzen könnten –, sondern wirkungslos.

Solange der Stachel der Modernisierung schmerzhaft erfahren wird, bleibt es eine Ermessensfrage einzelner (gleichgültig, wie viele es sein mögen), ob sie sich dazu entschließen können, einer Übermodernisierung, einer Modernisierung zweiten Grades anzuhängen, die inmitten der Defizite lebensweltlicher Modernität in mehr oder minder rätselhaften, in mehr oder minder deutbaren Zeichen zu denen redet, die zu hören wissen: ›Links‹ – wie selbstredend auch auf der gegenüberliegenden Seite – ›hatte noch alles sich zu enträtseln‹. Diese ›Einzelnen‹, Gegen- und Steigerungsfiguren des von Turgot und seinen Nachplapperern diagnostizierten Typus des ›atomisierten‹ bürgerlichen Individuums, waren die Intellektuellen. Mit Borges zu reden: ›sowie es einer war, waren es viele‹. Nachdem so manches Rätsel sich im Lauf der Zeit vielleicht nicht gelöst, dafür jedoch erledigt hat – und mit ihm, auf seiner Spur, die einschlägige Rhetorik –, scheint jedoch auch der Schmerz verschwunden zu sein. Mit dem Effekt, dass aus einzelnen, so viele es sein mochten, viele wurden: glücklich Beschäftigte im Weinberg des Intellektualismus, hier und da von verbotenen Trauben kostend, doch im ganzen damit beschäftigt, das Gestrüpp wuchernder Legenden zu jäten und den einer ebenso nahen wie fernen Lese entgegenreifenden Zitatenschatz zu hüten. Was immer auch bedeuten mag, dass man sich vor ihm hütet. Inmitten einer hyperaktiven Rezeptionsmoderne, in der einer auszieht, um sich ›gut‹ zu fühlen, fällt es den gestrigen Kritikern endlich wie Schuppen von den Augen. Das Nichts-anderes-als hat sie eingeholt und sorgt dafür, dass sie die Entdeckung ihrer eigenen Unerheblichkeit mit ungewohnter Munterkeit hinausposaunen. Der Fund hat es in sich.

Gibt es die Intellektuellen, gab es sie je? Wenn nicht – angesichts der verqueren Zuschreibungsriten eine jedenfalls erwägenswerte Variante –, so erscheinen sie als das, was sie ohnehin immer waren – ein glücklicher Einfall, eine Denunziation mit Folgen. Wenn doch, so stellen sie das unglückliche Bewusstsein der Moderne dar, die es genausowenig ›gibt‹ oder ›nicht gibt‹. Sie stellen es nicht nur dar, sie sind es in dem Maße, in dem es sich artikuliert. Nach zweihundert Jahren von der Dialektik geborgten Daseins scheint es hinreichend erkräftigt zu sein, um aus eigenem Anlass zu existieren und dagegenzuhalten. Die Moderne ist ihr Unglück; sie kennen kein anderes. Mit unwiderstehlicher Gewalt verkehrt sich ihnen, wie es scheint, das Glück oder Unglück der Geburt ins nirgends zu begrenzende Unglück, zur Modernität verurteilt zu sein. Ihr Glück und Unglück laufen auf dasselbe hinaus, sie hören auf einen Namen. Lange Zeit sah es so aus, als gebe es unerschöpflich viele Weisen, diesen Namen zu buchstabieren. Daher war der einzelne, der es anders versuchte, immer im Recht. Fragt sich nur, in welchem. Die Instanz, die da fragte und immer noch fragt – eine philologisch gewitzte Nebenöffentlichkeit –, hat ihr Raupenstadium entschlossen hinter sich gelassen. An den Tag kam ein vielflügeliger deus molestus, dem kein Zitat verborgen bleibt und keine Variante zu dürftig dünkt, um nicht ausgekostet zu werden. Die anschwellende Rezeption verbiegt das Unglück der Intellektuellen und inthronisiert es als ästhetisches Phänomen – und nicht als irgendeines, beileibe nicht, sondern als das ästhetische Phänomen schlechthin.

Darin steckt kein Trick, wie der eine oder andere Liebhaber des unverfälschten Absoluten argwöhnt. Der von niemandem gewollte Gang der Dinge ließ die Moderne zu einem Gravitationszentrum werden, um das sich die ästhetischen Überlieferungsstränge neu gruppierten, vorausgesetzt, sie verschwanden nicht im Bauch des allgemeinen Desinteresses. Ein beiläufig hingeschriebener Satz Walter Benjamins ordnet Goethes Wahlverwandtschaften neu, er lässt sie in einem Glanz erschimmern, der sich nicht dem Roman verdankt, sondern der vom Kritiker herbeigeführten Konstellation. Und Geschichte ist auch das bereits wieder: Zitate ›fungieren‹ als Gliederungselemente im Fluss von Texten, die stets ihresgleichen suchen. Jedesmal ist das ästhetische Ereignis die Moderne selbst. Es gibt keinen anderen Begriff von ihr. Die ästhetische Rechtfertigung des Daseins in der Moderne und durch die Moderne hat alle Prognosen und Programme überlebt und steuert die Lektüren. Auch das meint – unter anderem – die These vom Ende der Kritik.

Vorausgesetzt aber, die Kritik sei am Ende, so fragt sich noch immer, an welchem. Vielleicht ist die Frage ebenso leichtfertig wie unfair. Sie setzt voraus, es sei gerecht, alle im Zeichen der Modernisierung vorgetragene Kritik über einen Leisten zu schlagen. Auf diese Voraussetzung scheint ›am Ende‹ auch die umfassendste Verabschiedung hinauszulaufen. In dem Punkt bleibt Vorsicht geboten.

 

2.

»Ich versuche also den schwierigen Schachzug, die moderne Verfassung zu enthüllen, ohne auf die moderne Form der Entlarvung zurückzugreifen. Damit trage ich dem unbestimmten und unangenehmen Gefühl Rechnung, dass wir seit einiger Zeit nicht nur zur Modernisierung, sondern auch zur Denunziation unfähig sind. Die Grundlage für eine kritische Einstellung scheint uns entglitten zu sein.« Ein solches Programm leuchtet ein. Es lässt aber offen – vielleicht aus Gleichgültigkeit, vielleicht aus Kalkül –, welchen Gegenständen die so wundersam abhanden gekommene Fähigkeit zur Denunziation denn nun gegolten haben soll. Zwei Wunschgegner stehen zur Verfügung: die vormoderne und die moderne Welt. Belege aller Art lassen sich unschwer finden. Auf der einen Seite fordert die lebensweltliche Modernisierung ihr Recht. Das immer wieder aufgeblätterte Sündenregister der vormodernen Denk- und Lebensformen reicht von der illusionistischen Welterklärung bis zum unaufhebbaren physischen Elend der Vielen. Auf der anderen Seite addiert man fleißig die Kosten der Modernisierung; auch da werden stattliche Summen gehandelt. Der dumpf oder aufmerksam registrierte Leidensdruck erlaubt eine Polemik so gut wie die andere. Es bleibt die Frage, ob er sie deckt. Hält man dafür, dass der Eintritt in die Moderne die vormoderne Welt per definitionem in ein wesentlich unbestimmtes, da der ›modernen‹ Bestimmtheiten ermangelndes Davor entlässt, so drängt sich der Schluss auf, dass der Kampf gegen erstere den Kampf gegen das in ihr nachwirkende und damit nach wie vor anwesende Davor mit enthält – et vice versa. Die Vormoderne lässt sich nicht auf die versunkenen oder exotischen Welten der Historiker und der Ethnologen begrenzen. Was gingen sie sonst den Schmerz an? Die Vormoderne, das ist die widerspenstige Realität, gegen die ›im Geiste‹ bereits konsumierte Tendenz gehalten. Die vollendete Moderne müsste wohl eine sein, die dieses interne Problem bereinigt hätte – zwangsläufig bis hin zur Abschaffung des Todes, von der denn auch gelegentlich die Rede war, solange noch die Verheißungen des Glaubens durch Gegenangebote übertrumpft werden mussten.

Über das ›interne Problem‹ unterrichtet wie eh und je der Wille zur Modernität. Allen Legenden zum Trotz zeigt er sich keineswegs gebrochen; noch immer reicht der erstbeste Augenschein hin, den Postmodernismus der schlichten Gemüter zu widerlegen. Der Anblick des in seine Aktivitäten verstrickten Willens belehrt über die Widerstände, denen er ausgesetzt ist und an denen er seine Mittel erprobt. Zusammen repräsentieren sie den Gegenzwang dessen, was einmal ›Banalität‹, ›Rückständigkeit‹ oder ›Archaismus‹, dann wieder, zweideutig genug, das ›Bestehende‹ genannt wird. Vielleicht deckt die Vorstellung des Rituals am besten, worum es dabei geht – die Figur unausweichlicher Wiederkehren inmitten allgemein dynamisch gedachter und empfundener Verhältnisse. Nicht ohne Anlass meinten Skeptiker seit jeher etwas Bedeutsames zu formulieren, wenn sie von den ›Ritualen der Moderne‹ sprachen. In dieser Rede liegt bereits etwas von der Auskunft, die bündig lautet: »Wir sind nie modern gewesen.«

Wir, soll heißen die Modernen. Wohl wahr: Es gibt keine Tür, durch welche die Menschheit – oder ihr europäischer Teil – mit dem Seufzer gegangen wäre: Nun sind wir in der Moderne. Der Probierstein der Moderne ist die Retrospektive, der es auf ein oder zwei Jahrhunderte, auf ein paar Phänomene mehr oder weniger selten ankommt. Das beginnt früh. Die ›Modernen‹ des siebzehnten Jahrhunderts erfanden sich die Faustregel: Wir sind nicht nur, gegen die ›Alten‹ gehalten, andere, wir sind auch anders. Es erwies sich als ein schweres Stück Arbeit, das Anderssein mit einer Bedeutung und einem Zweck auszustaffieren. Ein ,Projekt‹ ergab das noch nicht, eher eine Bürde, mit der man zu leben hatte. Allenfalls eine Aufgabe inmitten von Widrigkeiten: die Geburt der Vernunft unter den Bedingungen der Neuzeit stand im Zeichen unverhofft eintretender Komplikationen. Sie ließen es ratsam erscheinen, den Vorgang, bei gehörigem Respekt vor der antiken Hebammenkunst, unter die Aufsicht jener gemischten Ärzteschaft zu stellen, die seither nicht müde wird, den gesellschaftlichen Körper abzutasten und kontroverse Bulletins zu verbreiten. Über einen längeren Zeitraum durfte sich niemand sicher wähnen, zu wissen, wie anders man wirklich war oder sein würde, falls – Gott bewahre – man beschlösse, nicht anders, sondern genauso sein zu wollen wie die ›Alten‹. Gott bewahre: ohne den christlichen Gott und die von ihm ausgehende Nötigung, anders zu sein als sie, hätte man den Punkt der Selbstverpflichtung vielleicht nie finden, geschweige denn festhalten können. Dieses Körnchen Wahrheit ist allen Auseinandersetzungen über die Moderne beigemischt.

Dennoch lässt sich nur mühsam der einmal gefasste Argwohn unterdrücken, die üblichen Erklärungen für den westlichen Sonderweg könnten am Ende nicht halten, was sie versprechen. Nicht etwa, weil bessere nötig wären, sondern weil sie dem Begreifen etwas näherbringen sollen, das erst erfunden werden musste, um ihre Konkurrenz zu ermöglichen. Sieht man näher hin, so erklären sie eine Einzigartigkeit, die in einem Meer von Einzigartigkeiten ertrinkt, unter dessen Oberfläche es (sarkastisch formuliert) von Gemeinsamkeiten nur so wimmelt. Was genau hält die religionssoziologischen Studien Max Webers eigentlich zusammen außer dem genealogischen Vorurteil? Was bliebe von ihnen lesbar, sobald man es versuchsweise von ihnen abzulösen begänne? Seine Nachfolger befinden sich in keiner privilegierteren Lage. Ihr routinierter Spagat zwischen der Auslegung der Fakten und der Auslegung einer Theorie, die bereits Patina angesetzt hat, bedeutet nichts Gutes – für die Theorie nicht und für die Fakten auch nicht. Der kleine Unterschied, der, wo immer man ihn postiert, die Genese der modernen Welt inmitten vormoderner, beharrender oder auf abseits verlaufenden Bahnen sich entwickelnder Welten erklären soll: man wird den Verdacht nicht mehr los, er ließe sich überall finden, vorausgesetzt, die eine oder andere Geschichte wäre ein wenig anders verlaufen – von der einen Geschichte spricht ohnehin niemand mehr, seit die Anthropologie den unterschiedlichen Richtungssinn kultureller Evolutionen als ihr Thema entdeckt hat. Wie sähe dann das westliche Gegenstück zu den ›Nörgeleien‹ aus, mit denen Tanizaki Jun’ichiro in seinem Lob des Schattens die westliche Kulturdominanz bedenkt? Und der Verdacht geht weiter. Häufig genug gilt das Bemühen, durch den Nachweis der singulären Genese der modernen Kultur, also der rationalen Operations- und Organisationsformen, die sich in den letzten zwei-, dreihundert Jahren in Europa durchgesetzt haben, um schließlich an die Schwelle einer planetarischen Kultur zu führen, dem Ziel, diese selbst als kontingent zu brandmarken, als eine Monstrosität innerhalb der menschlichen Gattungsgeschichte, deren Ende spätestens erreicht sei, sobald der »letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist«.

Die Singularität der Moderne – kaum ein Glaubensartikel wird so gedankenlos variiert wie gerade dieser. Kaum einer ist so schwer zu fassen, sobald man sich dem leidenschaftlichen Pro und Kontra entzieht und den imaginären Horizont, der sie umgibt, als Horizont der Gegenwart, aller Gegenwart begreift. Angenommen, man findet es lächerlich, den Pro-Kopf-Verbrauch an primärer Energie und die Vielfalt der Produkte, die ihm entsprechen, als Grundlage einer Einschätzung zu verwenden, die darüber aufklärt, wie herrlich – oder schrecklich – weit wir, die Menschen des Zwanzigsten Jahrhunderts, es gebracht haben, so bliebe auch die zweite große Revolution der Menschheit nach jener ersten an der Schwelle zum Neolithikum eine Schimäre, nicht etwa, weil nichts desgleichen geschehen wäre, vielmehr, weil ›seinesgleichen geschieht‹. Das Erreichte ist stets – das Erreichte.

Es wäre unredlich, in Abrede zu stellen, dass die modernen Lebens- und Bewusstseinsformen Formen sui generis sind: aus partikularen Bedingungen entstanden und den eigenen Partikularitäten verhaftet. Nüchtern betrachtet besteht darin das Unterfangen eines Intellektualismus, der den Kritizismus – die Denunziation, um die Vokabel noch einmal aufzugreifen – als seine Arbeit begreift. Die Singularisierung der Moderne, die unermüdliche Arbeit an der Differenz, die moralisch unterfütterte Bereitschaft, das Spektrum der Täuschungen aufzudecken, es könne um das Leben und Denken ›unter den Bedingungen der Moderne‹ nicht prinzipiell anders stehen als unter Bedingungen, die sich vor dem trennenden Blick den Anschein einer irreparablen Andersheit geben, der ganze Hochmut des Anderssein-und-Bevorstehenwollens – sie alle laufen auf eine unerbittliche Universalisierung der eigenen Lebensform hinaus, auf eine grenzenlos gebrochene Selbstbespiegelung, in der den anderen wechselweise die Last der Gattungsrepräsentanz (das ›gelebte Wissen um Mensch und Natur‹) und der naive Leichtsinn von Leuten zugeschrieben wird, bei denen selbst noch das Wissen die Form des Nichtwissens annimmt und die sich sogar ihr Glück erklären lassen müssen, weil es in Wahrheit unser verlorenes Glück bedeutet. Wann immer das Wissen des Wissens – der unvermeidliche Begleiter jeden aufgerufenen Wissens und jeder sich einstellenden Erkenntnis – aus dem Bescheidwissen ausgegliedert und isoliert wird, um jenen blinden Fleck des Universums zu dekorieren, an dem jede Kultur, die eigene wie die fremde, nur noch als versagende Instanz gegenüber den Entfaltungsmöglichkeiten des Menschseins – und, wer weiß, nicht nur des Menschseins – gedacht werden kann, entsteht jenes denkwürdige Paradox, demzufolge jede Selbstabgrenzung gegen ›die Barbaren‹ das barbarische Denken reproduziert und damit praktiziert. Denn entweder liegt die Versagung auf seiten meiner Kultur – der ›modernen Zivilisation‹ –: in diesem Fall bin ich nichts, ein seines Menschseins beraubtes Bündel Unglück, dem nur der Weg ins Freie, ins Offene bleibt, um vielleicht einmal zu werden oder ›in Würde‹ zu sterben. Oder die Versagung liegt auf seiten der dunklen, von bedrückenden Ritualen und unbegriffenen Mächten umstellten vormodernen Kulturen: dann starrt der moderne Mensch, auf den Höhen der Menschheit sitzend, in Abgründe, aus denen ihm allenfalls Fratzen entgegenblicken, nie aber ein menschliches Gesicht. In jedem Fall bleibt das Menschsein oder sein Verlust auf die imaginäre Grenze bezogen, welche Moderne und Vormoderne trennt wie die Vorfahren des heutigen Menschen von den Neandertalern, mit denen sie vielleicht eine Zeitlang Seite an Seite lebten. Die seltsame, in gewisser Hinsicht aberwitzige Aufforderung, ›Wege aus der Moderne‹ zu suchen, übersieht den imaginären Charakter der Grenze und damit den Umstand, dass keine ›Überschreitung‹ den Problemdruck und die ›schmutzigen‹ Aspekte der Gegenwart (die immer die eigene ist) zum Verschwinden bringen könnte. Hinter der nächsten Biegung des Weges findet sich alles wieder.

Das Projekt einer Übermodernisierung der Moderne, der dritte Weg der Intellektuellen, vereint die Nachteile beider Sichtweisen, ohne der entschiedenen Alternative, sich mit der eigenen Kultur zu identifizieren oder ihr den Krieg zu erklären, mehr entgegensetzen zu können als das – gewollte, bejahte – Unglück. Das Aussondern des Wissens des Wissens aus den detaillierten Wissenszusammenhängen, seine Verlegung ins Imaginäre ist, wenn nicht ihr Werk, so ihr Tun, ihre Wirksamkeit – ihr Preis. Wie die Schriften Simmels und Webers bezeugen, lässt sich die Bürde der Modernität, die doppelte Distanzierung der nichtmodernen Welt als einer Welt des verlorengegangenen und des noch nicht vorhandenen Wissens um die Menschheit, nicht ohne Eleganz beidseitig schultern.

Die Klage um das Schicksal der Seele im technologisch-monetaristischen Zeitalter und das unerbittliche Beharren auf dem Programm der Entzauberung sind zwei Fassungen ein und desselben Mementos. Ob man die Moderne als (in mehrfacher Hinsicht) ›verhängten‹, als tragischen oder nassforschen Abschied von der Idiotie des Naturwesens Mensch inszeniert, das hat mit subjektiven Befindlichkeiten und ungelüfteten Loyalitäten mehr zu tun als mit irgendeinem zäh verteidigten Denkerstatus. Alle Versuche, an dieser Stelle zwischen ›den‹ Intellektuellen – links und frei – und ihren akademischen Widersachern, den ›Mandarinen‹ eines als kulturkonservativ verschrieenen Betriebs, den großen Graben auszuheben und jede Bewegung der anderen Seite mit Feldgeschrei zu begleiten, werden an den Quer- und Widergängen zuschanden, die dieses Gelände durchziehen; man muss sich kein Maulwurfsfell überziehen, um die unvermeidlich erfolgenden Einbrüche mit einer gewissen Schadenfreude zu quittieren.

Der Graben – um diese dümmste aller Geist-Metaphern aufzunehmen und zu verabschieden –, der Haarriss zwischen dem die Gehirne okkupierenden Intellektualismus und einem Denken, das zwar keineswegs frei hat, aber den Gegensatz der Konzeptionen dahin verfolgt, wo die Entscheidung zugunsten eines anderen Programms annähernd mit Händen zu greifen wäre, wenn sie nicht im selben Moment einer rasenden Komik verfiele, tritt (fast unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, in einer der Atem- und Denkpausen also, die sich gelegentlich weniger in der Geschichte als in den ihr im großen und ganzen atemlos folgenden Beobachtern realisieren) an einer Stelle in der Korrespondenz zwischen Karl Löwith und Leo Strauss zutage. »Das Neue«, schreibt Strauss, »im 17. Jhdt. ist die Verwerfung alles Früheren« – die beiden Herren schreiben sich, die Gegenwart tapfer im Blick, gelehrte Briefe über Sinn und Unsinn der Querelle des Anciens et des Modernes. Strauss lässt keinen Zweifel daran, dass diese ›Verwerfung alles Früheren‹ tatsächlich eine tektonische Verwerfung, eine – übrigens durch nichts zu rechtfertigende – Veränderung der Grundgegebenheiten der menschlichen Selbstauslegung darstellt, die nur durch eine erneute, nunmehr die Grundlagen der modernen Verfassung betreffende Verwerfung korrigiert werden könne: »Man kann die Modernität nicht mit modernen Mitteln überwinden, sondern nur, insofern auch wir noch natürliche Wesen mit natürlichem Verstande sind...«

Darauf antwortet Löwith unter dem Datum des 18. August 1946: »was immer man gegen die progressiven Geschichtskonstruktionen sagen mag, so stimme ich doch insofern diesen zu, als ich auch finde, dass das Christentum die antike ›Natürlichkeit‹ grundsätzlich modifiziert hat. Bei einer Katze oder einem Hund kommt zwar die ›Natur‹ immer wieder heraus, aber die Geschichte ist zu tief im Menschen verankert, als dass es Rousseau oder Nietzsche oder Ihrem künftigen Heroen des natürlichen Wesens und Verstandes gelingen könnte, was sich schon in der Spätantike ausgelebt hat ... Wieweit unsere Denaturalisierung aufs Christentum zurückgeht, ist schwer zu sagen, aber sicher ist es nicht nur das historische Bewusstsein, was sich verändert hat, sondern unser geschichtliches Sein.« Die beiden ›Lesarten‹ des Bei- und Außer-sich-Seins des Menschen in der Moderne sind damit aufgeblättert, und Strauss beeilt sich, die praktische Schlussfolgerung aus Löwiths letzter Bemerkung zu ziehen: »Und ob! Aber wenn diese Veränderung auf irrtümlichen Voraussetzungen beruhte, so können wir nicht die Hände in den Schoß legen, sondern müssen unser Bestes tun, sie rückgängig zu machen – nicht sozial oder politisch, sondern privatissime.«

Löwiths Rolle in diesem Schlagabtausch ist die des klassischen Intellektuellen, des Navigators, der seine Position im Fluss oder im Strom der Zeit bestimmt, also geschichtlich, ohne dass ihm die Annahme fixer Letztbestimmungen – ›der Mensch‹, ›das geschichtliche Sein‹ – dabei grundsätzlich zweifelhaft würde. In der Hinsicht ist ihm Strauss überlegen, der letztere nur festzuhalten und unter völliger Ablehnung allen ,Zeitgeistes‹ gegen seinen Gesprächspartner zu kehren braucht wie in der hochfahrenden Replik auf dessen Bemerkung, schließlich sei »das Unbehagen der Modernität an sich selbst ja auch nur auf Grund des historischen Bewusstseins vorhanden, des Wissens um andere und ›bessere‹ Zeiten«, und wo dieses Bewusstsein ›abhanden‹ komme – wie in den nach 1910 in Russland und nach 1930 in Deutschland geborenen Generationen –, werde »die Modernität auch gar nicht mehr als etwas zu Überwindendes empfunden«. »Umgekehrt«, schreibt Strauss, »das historische Bewusstsein ist eine Folge des Unbehagens der Modernität an sich selbst ... Dass die jungen Generationen in Deutschland und Russland die Modernität nicht mehr als etwas zu Überwindendes empfinden, ist selbstverständlich völlig gleichgültig – so gleichgültig wie was die Andaman Islanders ... über Konservenbüchsen denken.«

Ist das nicht merkwürdig? Einmal unterstellt, der Verdacht, den Freud seinerzeit zum Anlass nahm, um der Kultur die Diagnose zu stellen, träfe zu, die Moderne fühlte sich also unbehaglich in sich selbst, so wäre doch keineswegs einzusehen, wozu sie des Geschichtsbewusstseins als einer ›Folge‹ dieses Unbehagens bedürfte. Stellt es ihr doch nur den Faktor ›Entwicklung‹ vor Augen, also die Unentrinnbarkeit der Verläufe: einen Anblick, der das Unbehagen einerseits nur zu steigern vermag, andererseits als unangemessene Reaktion auf die ›Geschichtlichkeit‹ des menschlichen Seins entlarvt. Wie könnte sich das immer vorhandene Unbehagen wohl als eines an der Moderne zu erkennen geben, wenn mit dem Begriff der Moderne das Hauptingrediens jeden ›Geschichtsbewusstseins‹ fehlte? Und weiter: Schafft letzteres, das einmal dazu diente, den Gegensatz der Antike und des ›modernen‹ Europa zurechtzurücken, nicht mehr Probleme als es löst? Sollen wir uns im Ernst die Antike als ein Eiland des Wohlbefindens in einem Meer von Unbehagen denken, als den einzigen Ort in Zeit und Raum, an dem der Mensch es zu seinem ›natürlichen‹ Menschsein gebracht hat? Oder umgekehrt das neuzeitliche Europa als Archipel des Unbehagens inmitten eines es umbrandenden Meeres von Behaglichkeit, das ›vormoderne Menschheit‹ heißt? Das alles klingt – gelinde gesagt – ziemlich närrisch. Wenn es dennoch gedacht wurde, dann aus einem Bedürfnis heraus, das in aller nach den Regeln dieses Disputs kalkulierenden Rede noch gar nicht zum Ausdruck kommt.

 

3.

Ein Verdacht lässt sich nicht länger von der Hand weisen. Sollten die Elemente, die mit bestrickender Folgerichtigkeit in den zwanghaften Versuchen wiederkehren, die europäisch-nordamerikanische Moderne zu singularisieren und damit zu universalisieren, am Ende nichts weiter repräsentieren als ein Bündel von Scheinproblemen? Sollte die Existenzform des Intellektuellen, wie sie im letzten Jahrhundert ausgebildet und seither immer wieder auch unter hohem persönlichem Einsatz durchlebt wurde, mit einem solchen Bündel von Scheinproblemen paktieren? Sollten demnach ihre leitenden Ideen, die Hebel ihrer Wirksamkeit, ›nur Schein‹ gewesen sein? Wäre es denkbar, dass sie sich am Ausgang dieses Jahrhunderts mit leichter Hand auflösen lassen, weil ihre reale Grundlage, die machtgestützte Vorherrschaft westlicher Denk- und Organisationsformen in der Welt, zwar nicht abrupt zu Ende gegangen ist, aber nach und nach einen anderen Hintergrund und damit eine andere Färbung bekommen hat? So zu denken setzt allerdings voraus, dass man das Frage-und-Antwort-Spiel noch etwas weiter treibt und jenen Schein nicht für etwas hält, das ohne weiteres zu vernachlässigen wäre. Was so viele Vordenker des Zwanzigsten Jahrhunderts derart zuverlässig gefesselt hielt, war zu keiner Zeit ›nichts als Schein‹. Es war das Produkt eines alle Oberflächen modifizierenden Missverständnisses. Wenn sich die Intellektuellen über etwas täuschten, dann möglicherweise über Voraussetzungen ihrer ›Politik‹, die sie selbst zu verantworten hatten.

In seinem UNESCO-Aufsatz von 1952 erzählt Lévi-Strauss, kurz nach der Entdeckung Amerikas habe die spanische Regierung Untersuchungskommissionen auf die Antillen geschickt, die herausfinden sollten, ob die Eingeborenen auch eine Seele besäßen; darauf seien letztere dazu übergegangen, ihre europäischen Gefangenen einzugraben, um zu erkunden, ob ihre Leichen wie die anderer Lebewesen der Verwesung unterlägen. Die Episode enthält eine Lektion über kulturelle Differenz, die versäumt, wer in ihr nur barbarische Exzesse ins Werk gesetzt sieht. Keine Moral, kein ›Wertebewusstsein‹ ist bloß hypothetisch in dem Augenblick, in dem es zur Tat schreitet. Nur wenn die Umsetzung scheitert – aus äußerlich scheinenden und zunächst undurchschauten Gründen –, kommt das Spiel der Hypothesen in Gang (oder auch nicht). Erst beim zweiten Wurf werden die ›Werte‹ der Gegenpartei ins Auge gefasst. Die Wahrnehmung, die sie als von den eigenen abweichend erkennt, verwandelt beide in ›Ideen‹, die sich verwerfen oder annehmen lassen, jedenfalls in etwas, dessen man sich entäußern kann, wenn auch, mag sein, um den Preis eines schlechten Gewissens. Noch vor den Werten aber gerät die Partei in den Blick, die sie vertritt, mit ihren Vorzügen und Schwächen, im Glanz und Elend ihrer Funktionstüchtigkeit resp. -untüchtigkeit, als etwas, das den Drang erzeugt, es zu zerlegen und nachzusehen, aus welchen wirklichen Antrieben es sich speist. Die erwähnten Indios gaben diesem Drang nicht weniger nach als ihre spanischen Überwinder. Vermutlich hatten sie sogar die besseren Gründe, weil sie, den drohenden Verlust ihrer Freiheit vor Augen, wissen mussten, wer ihre Feinden waren und wie tief die Niederlage reichen würde.

Wann immer die Differenz der Kulturen im Verkehr zwischen Staaten oder Gruppen in Erscheinung tritt, beginnt die Verwandlung bis dahin unbesehen geltender ›Werte‹ in ›Hypothesen‹, und damit der schleichende Prozess, in dem jede einmal eingenommene Position davon Mitteilung gibt, dass man in jenem Stadium eines versuchsweisen Redens angekommen ist, in dem zwar der Schritt zurück jederzeit möglich bleibt, nicht aber die Wiederherstellung der Ausgangslage. Etwas hat sich bewegt, ist weitergezogen, die relativen Koordinaten stimmen nicht länger überein und die absoluten überzeugen nicht mehr. Der gute Wille, der böse Wille – beide gelten gleich viel in einer Auseinandersetzung, in der es keine Äquidistanz gibt, kein gemeinsames Ausmitteln dessen, was denn hier und in Zukunft zu gelten habe. Der beste Gedanke bleibt immer der Hintergedanke, der beste Gewinn der Positionsgewinn, weil anders das Spiel nicht gespielt werden könnte. Jedesmal sind zweierlei Hypothesen im Spiel: eine, die nicht aufgegeben werden kann, ohne in veränderter Fassung wieder aufzuerstehen – die eigene –, und eine, auf deren Verschwinden man hinarbeitet, das man gern in Kauf nehmen würde, obgleich man mühsam begriffen hat, dass ein prinzipiell unbegreiflicher Wille sie täglich mit neuen und gelegentlich schlagenden Argumenten ausstattet – die fremde. Der Drang nachzusehen, aus welchen Quellen sich der andere Wille speist, kann insofern nicht überraschen. Da er in jedem Fall leer ausgeht, zeichnet er jenen Zug von sinnloser Grausamkeit in die Geschichte ein, der den Nachgeborenen ewig unverdaulich bleiben wird, vorausgesetzt, es kommt ihnen nicht die Himmelsmacht der Dialektik zu Hilfe.

Dieses mit Widerhaken bestückte Modell der wechselseitigen Annäherung von Kulturen ist keineswegs neu. Es nimmt – aus gehöriger Distanz – einen Gedanken auf, der bereits den Aufklärern helfen sollte, intellektuelle Grenzstreitigkeiten anders zu verstehen denn als Sünde wider die eine Vernunft. Herder entfaltet ihn über der Differenz zwischen der ›natürlichen‹ Vernunft einer ›morgenländisch‹ ausstaffierten Menschheitsfrühe und ihrem späten, aufgeklärten Gegenstück, der ›künstlich‹, soll heißen verständig gewordenen Ratio der europäischen Gegenwart. Die natürliche Entwurfsfähigkeit der Vernunft, also die Fähigkeit zu einer synthetischen Weltauffassung, die in den mythischen Dichtungen der Alten wie in der Poesie der Naturvölker zum Vorschein kommt, bindet er – nicht erst in den Ideen, dort aber systematisch und konsequent – an territoriale Voraussetzungen. Das besagt nicht, dass bestimmte territoriale Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit sich die Menschennatur entfalten kann. Im Gegenteil: gerade die natürliche Differenz in der Beschaffenheit der Territorien (vor allem im Hinblick auf das Klima, aber natürlich auch auf die Qualität der Böden, die Vegetation etc.) ist vorauszusetzen, wenn sich Nationen bilden, in denen der Menschengeist seine erste, natürliche Ausprägung erhält. Entscheidend ist das Prinzip der Territorialität: erst die räumliche Trennung der Bevölkerungen und die aus ihr resultierende Abgesondertheit der Zustände erlaubt es den Prägekräften der Natur, ihr Werk der Menschenbildung zu vollbringen. Die räumliche Beschränktheit erzeugt im Geistigen jene geschlossenen Horizonte, deren die Menschheit zu ihrer Glückseligkeit, sprich: zum Ausleben ihrer Natur bedarf.

Herder zufolge muss man die räumliche – und mit ihr die geistige – Beschränktheit der anfänglichen Kulturen als in sich unbegrenzt denken. So wie das scheinbar grenzenlose Meer, das den Blick einengende Gebirge, der Horizont insgesamt keine scharf konturierte Grenzlinie bezeichnen, vielmehr stets dazu einladen, weiterzugehen, so eignet der sich anfänglich entfaltenden Vernunft neben dem Maß, das aus ihrer territorialen Zentrierung entspringt, auch die Maßlosigkeit, die sich dem fehlenden Bewusstsein fixierter Grenzen verdankt. Diesem unter Alltagsumständen weitgehend neutralisierten Moment der Maßlosigkeit entspricht die naturgegebene Möglichkeit des Despotismus. Es steckt hinter der latenten, nicht eben selten spürbaren Unruhe der Naturvölker, die auf ihre Gelegenheit lauert, hinter Aufbruchstimmungen, die aus scheinbar nichtigem Anlass entstehen, sofern nur jemand, von welcher Not auch immer getrieben, sich dazu entschließt, weiter zu gehen als die anderen. Das geschieht auf zweifache Weise: durch Überschreiten des angestammten Territoriums und durch Machtausdehnung gegenüber den Angehörigen des eigenen ›Stammes‹. Beide Überschreitungen, so Herder, gehören zusammen. Die großen Anführer legitimieren ihre Herrschaft durch Ausdehnung des Territoriums und die in ihrer Folge zu erwartenden kriegerischen Verwicklungen.

Der Despotismus ist also eine Form der Grenzüberschreitung. Mehr, er erfindet die Grenze, die sich erst der Wahrnehmung post festum, der dem Unglück geschuldeten Entdeckung, zu weit gegangen zu sein, verdankt. Solange sich dieses Bewusstsein, das Kind der Niederlage, nicht einstellt, bleibt der Despot, ungeachtet jeder Grausamkeit, zu der er sich versteht, der unschuldige und fröhliche Erbe der Natur. Damit ist er für Herder gerechtfertigt – in der Theorie, versteht sich –, allerdings nicht ohne weiteres, sondern vor einem Hintergrund, den der theologisch-teleologische Schematismus der Ideen entfaltet. Denn der Despotismus ist die erste Abstraktion, zu der sich der Menschengeist versteht: einerseits, in seiner charakteristischen Maßlosigkeit, noch ganz Natur, andererseits, als das wirkliche Ausmitteln der dem Eroberungsgeist gezogenen Grenzen, eine Aktivität, der, auf dem Weg der Reflexion, das Verständigwerden der Vernunft entspricht. Das geschieht auf eher handfeste Weise. Durch den Informations- und Werkzeugbedarf, der aus dem Bewusstsein zu vermeidender Niederlagen erwächst, wird die Despotie zum Urheber – nicht zum dauernden Garanten! – der Künste und Wissenschaften und damit des mit dem Gang der Aufklärung identischen zivilisatorischen Fortschritts.

Der Vorgang wiederholt sich in allen alten Kulturen. Der Monarch schafft die organisatorischen und administrativen Voraussetzungen, unter denen sich die Wissenschaften ausbreiten können. Zu ihnen gehört das Überschreiten der natürlichen Bildung durch die Vermischung der Kulturen. Zu den oft übersehenen Zügen Herderscher Begriffsbildung gehört, dass eine Kultur stets eine Vielzahl vorausgehender Kulturen integriert. Schon die anfängliche Beschränktheit der Nationen ist nicht ›ursprünglich‹ gegeben, sondern stellt sich her. Kultur in jener zivilisatorischen Bedeutung, in der die Ideen von ihr handeln, beruht auf der planmäßigen Zurückdrängung nationaler Beschränktheiten zugunsten übergreifender Verkehrsformen. Das ist ohne Feindseligkeit nicht zu haben. Welthistorisch betrachtet, erhält die beispiellose Aggression der alten Römer gegen die Völker der antiken Welt so einen guten Sinn. Ihre starre, Jahrhunderte hindurch konsequent betriebene Politik der Auslöschung regionaler Kulturen bereitet den Boden – das ›Territorium‹ – für jenes wiederum beispiellose Ensemble neuzeitlicher Staaten, das Herder mit dem Titel einer ›Europäischen Republik‹ bezeichnet – die erste Kultur, die zu einem planetarischen Ausgreifen bereit und fähig werden sollte.

Die Konstruktion der singulären Kulturentwicklung Europas findet sich hier auf gutem Wege. Bereits die Rolle des antiken Rom wie des römischen Christentums, das ihm an die Seite tritt und jenes Vakuum füllt, das der Vernichtungsfeldzug des Imperiums gegen die nationalen Kulturen des Mittelmeerraums herbeiführt, wird als einzigartig beschrieben. Als einzigartig erweist sich auch ihre Wirkung auf Europa: die Etablierung der Wissenschaften als des dritten Standes zwischen römischer Kirche und feudaler Herrschaft am Ausgang des mittleren Zeitalters setzt einen einheitlichen europäischen Kulturraum ebenso voraus wie den ungebrochenen Bestand nationaler Besonderheiten bei den germanischen Eroberern und der durch ihn eröffneten Spielräume für die differente Auslegung und Modifikation des überkommenen Weltwissens.

 

4.

Man muss dergleichen im Hinterkopf haben, um auszukosten, mit welcher Ungeniertheit Alain Finkielkraut in seinem Pamphlet Die Niederlage des Denkens gegen den Aufklärer vom Leder zieht. Finkielkraut überträgt das Pathos, mit dem einst Julien Benda nach zwei gewonnenen Kriegen jeweils auch den inneren Feind in die Knie zwingen wollte, ins Idiom des aktuellen philosophisch-politischen anti-anti-ethnozentristischen Diskurses. Revanchisten der Dritten Republik, Ethnologen in der Nachfolge von Lévi-Strauss, UNESCO, Dritte-Welt-Ideologen, Verfechter wie Verächter multikultureller Gesellschaftsentwürfe, wohlmeinende Pädagogen, Postmodernisten, sie alle werden herbeizitiert, um stets dasselbe zu bezeugen: den historischen Triumph von Herders ›Volksgeist‹ seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert über das Denken, die Vernunft, die Kultur an sich. Sie alle gehören jener sonderbaren Spezies geistiger Überläufer an, die vergessen haben oder vergessen machen wollen, was Benda seinen Lesern seinerzeit in ebenso klaren wie einfachen Worten einzuschärfen unternahm: »Kultur erscheint mir keineswegs als etwas, das der Spezies Mensch kraft ihrer natürlichen Anlagen zukommt; umso weniger, als ich von großen Teilen dieser Spezies weiß (die asiatische Welt in der Antike, die germanische in der Neuzeit), die sich als kulturunfähig erwiesen haben und es auch durchaus bleiben könnten.« Die theoriegewordene Unfähigkeit, das Wesen der Kultur zu begreifen, demonstriert ad oculos, Finkielkraut zufolge, Herders Kulturbegriff. Denn Herder kenne keine Kultur, er kenne nur Kulturen – die dann auch danach seien.

Herder: ›Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen, und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes!‹
De Maistre: ›Alle bekannten Völker waren glücklich und mächtig soweit sie treu einer nationalen Vernunft folgten, die nichts anderes ist als die Vernichtung der persönlichen Glaubenssätze und die absolute und allgemeine Herrschaft der nationalen Glaubenssätze, das heißt der nützlichen Vorurteile.‹

Und Finkielkraut fährt fort: »Französische Gegenrevolutionäre wie deutsche Romantiker erklären ihre Liebe zum Vorurteil, rehabilitieren dadurch den abfälligsten Ausdruck der Sprache der Aufklärung und – Gipfel der Dreistigkeit, äußerste Provokation! – erheben ihn zu kultureller Würde. Wenn die individuelle Vernunft schläft, dann blühe beileibe nicht der ›Obskurantismus‹, sondern, so meinen sie, die ›kollektive Vernunft‹.«

Um den ›Gipfel der Dreistigkeit‹ in Augenschein zu nehmen, genügt es nun allerdings nicht, ein Zitat herumzureichen, das, für sich genommen, nicht mehr besagt, als dass man vom ›Glück‹ der Völker und ihrer kulturellen ›Entwicklung‹ doch gefälligst als von unterschiedlichen Dingen reden sollte. Man muss die Karriere hinzunehmen, die das Zitat (oder der Appell, den es zu enthalten scheint: So ihr nicht werdet wie die Kindlein!) in der Folge gemacht hat – bei Romantikern diesseits und jenseits des Rheins bis hin zur NS-verwobenen Auslegungspraxis und dem törichten Versuch, ein handverlesenes Publikum im besetzten Paris mit den Vorzügen der deutschen Denkungsart vertraut zu machen. Und man muss das eigentümliche Phänomen theoriegestützter Glückserwartung näher in Augenschein nehmen, das überkommene Texte wie den Herders so selbstverständlich überformt, dass der Denunziant ohne ein geringstes Bewusstsein der Gefahr in die ihm durch die wütend in Abrede gestellte ›kollektive‹ Präokkupation seines Denkens gestellte Falle tappt. Es wäre ein Fehler, diese Glückserwartung ohne weiteres in die Heilsgewissheit säkularer Erlösungsreligionen zu setzen – einmal, weil sich letzterer selbst unter den ›progressiven‹ Intellektuellen stets nur eine Minderheit mit Haut und Haaren verschrieben haben dürfte, zum anderen, weil sie die Heilsungewissheit – den ›Unglauben‹ – zur verbalen Voraussetzung hat, die eine unentwegt mit der Möglichkeit finaler Erlösung hadernde Vernunft geradewegs in den Rang einer Existenzialie erhebt.

Gegen den Kritiker wäre zu fragen, warum Herder das kollektive Glück in die Abgeschiedenheit früher Menschheitszustände verlegt. Das ist nicht schwer zu erraten. Glück ist das Privileg der Kindheit. Nicht weil alle Kinder glücklich wären – weit gefehlt –, sondern weil sie sich, erwachsen geworden, allen überstandenen Schrecken zum Trotz an die Kindheit nicht anders als an eine Zeit des Glücks erinnern können. Das Glück liegt in der Erinnerung. Diese Glücksmöglichkeit, die einzige, die immer offen steht, gilt als unaufgebbar; aus ihr stammt die Kraft des Individuums, das Dasein zu bestehen.

Aber wozu bedarf es dann noch der Fiktion eines kollektiven Glücks, wenn es ›in der Realität‹ nicht zu finden ist? Weil es ein kollektives Gedächtnis gibt: die Überlieferung. Alle ältere Dichtung wirft die Frage auf, warum die relative Unwissenheit, die sich in ihr bemerkbar macht, das räumlich und geistig enggefasste Vorurteil, dem sie zum Ausdruck verhilft, weit entfernt davon, einen Einwand gegen sie darzustellen, zu einer nicht unbeträchtlichen Quelle des Genusses und des Behagens zu werden verstehen. Herders Antwort lautet: Im kollektiven Gedächtnis fällt der poetischen Überlieferung die Funktion der Kindheitserinnerungen zu. Einfalt schadet nicht, solange man sie genießt. Sie bereitet Genuss, wenn sie sich mit der Vorstellung früherer Zustände des Geistes und des gemeinschaftlichen Lebens verbindet. Das moderne Individuum findet darin nicht sich, wohl aber jemanden wieder, der es hätte sein können – an seinem Ort, zu seiner Zeit.

Die entscheidende Frage lässt sich an den Text des Aufklärers demnach gar nicht stellen. Sie lautet: Welchem Bedürfnis soll, neben dem Glück des einzelnen, die Konstruktion eines künftigen gemeinschaftlichen Glücks Rechnung tragen (wie immer man diese Gemeinschaft bestimmt, als Nation, Volk, Kollektiv, Gemeinde der Gleichgesinnten, der Entrechteten und Beleidigten), das gegen alles Glück und Unglück, welches ein Individuum im Laufe seines Lebens erfährt, relativ gleichgültig oder sogar immun gedacht werden muss, sofern nicht dieses Individuum bereit ist, das Unglück der Zeit auf sich zu nehmen und selbst das erfahrene Glück als Glück im Unglück, als ein missratenes oder billiges Glück zu interpretieren? Denn von dieser Vorstellung kann sich der Kritiker ebensowenig lösen, wie er sie den Kritisierten ersparen möchte: In einer durch die Erklärung der Menschenrechte grundsätzlich veränderten Welt hindern sie und ihre dubiosen politischen Handlanger den einzelnen erfolgreich daran, den welthistorischen Gewinn einzustreichen, den eine uneingeschränkte Kultur freier und vernunftgeübter Individuen unweigerlich ausschütten würde.

Der rationale Kern in den Ausfällen Finkielkrauts besteht darin, dass er gegen das Differenzdenken – la différence pour la différence – am Unterschied zwischen der Herleitung eines Gedankens aus (ohnehin meist erfundenen oder zurechtgemachten) Geschichten und seiner sachlichen Triftigkeit festhält. Dass er sie seinerseits nur in Geschichten entfalten kann und sich dabei nicht sonderlich scheut, auch trübe Quellen heranzuziehen, bezeugt das Ausmaß der Misere, die er beschreibt: die Polemik verzehrt sich selbst. Darin wird sie zum Modellfall jener Figur des Aufschubs (›différance‹), mit der die Dekonstruktivisten rechtzeitig zum großen Ausverkauf die hermeneutisch trainierte Welt beglückten, und die darauf hinausläuft, im Spiel der Differenzen den Platzhalter des stets noch ausstehenden Sinns zu markieren und anzuhübschen. Der vom Kollektiv genesene Einzelne findet sich unvermutet in einem ihm feindseligen Element, er wird zum Opfer der differenten Geschichte, in der immer neue Gruppen von Unbelehrbaren über die Bühne trotten und die autorisierten Akteure daran hindern, das einzigartige Schauspiel der einen zur Vernunft gekommenen Menschheit zu beginnen. Das freie Individuum, der Sinn der Anstrengung, die Finkielkraut die keinen Plural vertragende ›Kultur‹ nennt, wird so das aufgeschobene.

Genealogien oder ›genetische Rekonstruktionen‹ sind nützlich und hin und wieder notwendig, damit ein Gedanke Gestalt annimmt. Sie werden zu Werkzeugen der Anmaßung und der Betäubung, sobald sie ihn rechtfertigen oder diskreditieren sollen. Angenommen also – da es das Denken nichts weiter kostet –, Herders Vorstellung sei nicht gänzlich verkehrt, dass die Anfänge der Wissenschaften sich der Despotie verdankten, genauer: dem durch die Erfahrung der Grenze abgelenkten Willen zur Grausamkeit. Rechtfertigen lässt sich eine solche Annahme leicht, da allein der Entschluss, Menschen arbeiten zu lassen, um anderen die Sorge um die eigene Notdurft zu nehmen, auf dass sie Zeit zum ›Nachdenken‹ gewinnen, nicht ohne Grausamkeit zu haben ist. Der Gedanke liegt nahe, dass eine solche ›Wissenschaft‹ zunächst und vielleicht für lange Zeit die Grausamkeit exekutiert, in deren Dienst sie sich weiß. Wie nebenher entdeckt sie in dieser Funktion, dass es sinnloses Leiden gibt: Not und Schmerzen, die nach dem Stand der Erkenntnis nicht nötig sind, sei es, dass ihnen durch einfache Maßnahmen abzuhelfen wäre, sei es, dass die quasiexperimentellen Einsichten, zu denen sie verholfen haben, nunmehr vorliegen und weitere Versuche sich dadurch erübrigen.

Die Entdeckung setzt voraus, dass man Lebensvollzüge als Erkenntnisvollzüge interpretiert. Und was passiert, sobald man, gleichsam im Gegenzug, Erkenntnisvollzüge als Lebensvollzüge interpretiert? Dann liegt der Gedanke der grundsätzlichen Sinnlosigkeit des Leidens nicht fern. Wenn die Reihe der Versuche die Kette der notwendigen, weil mit dem Beharren auf Zwecken unumgänglich sich einstellenden Leiden um ebensoviele Glieder kürzt, wie sie Erfolge zeitigt, so sollte es, recht bedacht, ausschließlich eine Frage der Zeit und der in ihr fortgesetzten Versuche sein, jedes Leid aus dem menschlichen Dasein zu verbannen. Der Stammesbeschluss, den Svevos Häuptling seinem Achmed übermittelt: »Wisse, dass der Stamm mit dem Ende anfangen will«, ist daher wohlbegründet: Er trifft ein Elend, welches mit der Qualität des Leidens, das es voraussetzt, wenig mehr als die Bezeichnung gemein hat. Das Leiden an der Moderne setzt den festen Entschluss voraus, Erkenntnis- und Lebensvollzug ineins zu setzen: die ›archaische‹ Existenzform des Weisen. Heikel wird dieser Entschluss in einer Lebenswelt, die hinreichend rational durchdrungen ist, um die Steuerbarkeit physischen und psychischen Elends zur zentralen Erfahrung im Leben der einzelnen werden zu lassen, und so die Überzeugungskraft religiöser Sinngebungen unter die kritische Grenze senkt, an der sie im Fall der Not reaktivierbar erscheint. Angesichts des Leidens an der sich als Erfahrung verbergenden Einsicht, dass man unaufhebbar zu früh ins Leben getreten ist, um in den vollen Genuss des Gattungsexperiments zu gelangen, verblassen Freud und Leid des Alltags. Schlimmer: sie werden als eine Art Maskerade empfunden, als Draperie eines Wesens, das sich entzieht und nur durch jenen anonymen und weltlosen Schmerz daran erinnert wird, dass es existiert.

Hat sich demnach die Existenzform des Weisen verbraucht? Sollte, angesichts so vieler Unweisheit, das seit Jahrzehnten ohne viel Überzeugung gehandelte Wort von der Expertenkultur, die ausnahmslos jedem das Gehör verweigert, der es wagt, ›das Allgemeine‹ zu denken und dieses Denken zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen, zum letzten Wort in der Sache werden? Schade wäre es allemal. Außerdem sind alle gewitzt: Auch diese Diagnose beansprucht für sich einen Ort im Spektrum des Argumentierens, den sie für alle Zukunft freigehalten zu sehen wünscht. Immerhin zeigt Lévi-Strauss’ Beispiel der Indios, die sich um den göttlichen, und der ihnen entgegenarbeitenden Spanier, die sich um den menschlichen Status ihrer jeweiligen Opfer kümmern, den stattlichen Anblick zweier ›Expertenkulturen‹ – um auch hier dem Plural zum Einsatz zu verhelfen –, die einander in die Hände arbeiten, während sie den Kampf perpetuieren. Dass uns das Vorgehen der einen Partei barbarisch, das der anderen hingegen lächerlich vorkommt, liegt daran, dass die einen sich eines Opferrituals bedienen, das ihnen als zuverlässige Anzeige des Göttlichen gilt, während die anderen ein wissenschaftliches Ritual inszenieren, um eine Aufgabe zu lösen, für die, wie der Experte des Zwanzigsten Jahrhunderts weiß, keine wissenschaftliche Strategie zur Verfügung steht. Das heißt aber nur, dass wir beide als tragikomische Opfer ihres Expertentums empfinden – die Indios (denen wir ihre Riten in Bausch und Bogen konzedieren) ebenso wie die spanischen Kommissionen, die noch nicht ahnen können, wie man ein paar hundert Jahre später in den einschlägigen Kreisen über ihre Erhebungsmethoden denken wird. Gerade die Tatsache, dass Expertenkulturen in bestimmter Hinsicht ›dicht‹ sind – sonst wären es keine –, wird stets jede Art von Misstrauen gegen sie mobilisieren. Las Casas jedenfalls ließ sich nicht auf den humanitären Sankt Nimmerleinstag vertrösten.

 

5.

Als Gilles Deleuze 1962 seinem Buch Nietzsche et la philosophie die Prophezeiung voranschickte, Nietzsche stehe seine Zukunft noch bevor, da musste man schon ein sehr intimer Kenner französischer Verhältnisse sein, um zu ahnen, wovon der Autor redete. Inzwischen haben die Schockwellen des dritten Nietzscheanismus den Erdball mehrfach umrundet und keine diesbezüglichen Fragen offengelassen. Ausnehmend gut hat es sich gefügt, dass ungefähr zur gleichen Zeit in Gestalt der Colli-Montinari-Edition eine Ausgabe unter die Kenner kam, die mit alten Vorurteilen aufzuräumen versprach und einen ungewohnt zivilen, seine Lektüren ausschreibenden und die eigenen, sattsam bekannten und seinen Bewunderern seit längerem peinlichen Attitüden unermüdlich unterwandernden Autor präsentierte, mit dem sich auch vorsichtigere Gemüter selbst in gesinnungsfesten Kreisen bald wieder blicken lassen durften.

Es muss ein exotischer Moment gewesen sein, als die Rede vom Ende des Menschen, noch heideggerisch verpackt, aber bereits mit Motiven des Übermenschen liebäugelnd, nicht unähnlich Kafkas Mann vom Lande in den Randregionen einer Pariser Szene auftauchte, welche zu dieser Zeit von einer im nachhinein schwer zu begreifenden Allianz aus Strukturalismus und Revolution in Atem gehalten wurde. Was sich da rührte, ließ auf verbotene Neugier oder kalkulierten Affront schließen, vermutlich auf beides. Wenn es Kalkül war, dann sollte er glänzend aufgehen. Mehr als alle Enthüllungen über das GULAG-Imperium trug die Entdeckung Nietzsches für das linke Bewusstsein ihr Scherflein dazu bei, das Leitbild des auf ein marxistisches Basisvokabular eingeschworenen westlichen Intellektuellen peu á peu zu zerrütten. In einer an Auffälligkeiten nicht eben armen Zeit war dies eine Selbstdekonstruktion, die sich sehen lassen konnte. Inzwischen zitiert man Nietzsche hierzulande wie einst C. G. Jung oder Alexander Mitscherlich – um von ostdeutschen Reminiszenzen zu schweigen. Der zwerchfellerschütternde Bericht, den John Carey 1992 in seinem Buch The Intellectuals and the Masses von früheren Auswirkungen der Nietzsche-Lektüre auf das sonst eher als unterkühlt geltende britische Gemüt zu geben wusste, trifft da keinen Nerv.

Man kann Nietzsche nicht kritisieren – bei Strafe der Lächerlichkeit. Man kann nur den Finger in offene Wunden legen, darunter solche, die nicht unbedingt seine eigenen sind. »Er ist der moderne Klassiker par excellence.« Lässt man die ideologischen Pflichtübungen beiseite, so findet man kaum eine Pose, kaum ein Gedankenspiel, die von den Intellektuellen in diesem Jahrhundert öffentlich in Anspruch genommen wurden und nicht zuvor von ihm erprobt, durchdekliniert, verändert oder verworfen worden wären. Nietzsche ist der Erfinder dieses Jahrhunderts, der seinen Protagonisten – wie Shaftesbury denen des 18. Jahrhunderts – ins Stammbuch schrieb, was an der Zeit sei und welche Art von Denken künftig Anspruch darauf erheben könne, zu bewegen. Nichts liegt also näher, dass man nun, da die Spektakel verrauscht und die Verbrechen begangen sind, die in ihnen von ferne anklingen, auf seine Schriften zurückkommt. Wie man zurückkommt: da liegt das Problem.

Es war Nietzsche, der den folgenreichen Einfall Rousseaus, die Geschichte der Menschheit in eine bisherige, weitgehend naturwüchsig verlaufene, und eine hier und heute ihren Ausgang nehmende, in die eigene Regie zu nehmende Hälfte aufzuteilen, radikal auf die Geschichte des Denkens bezog und dabei seinen Schriften die Bedeutung eines welthistorischen Scharniers gab: »Hat man mich verstanden? – Die Entdeckung der christlichen Moral ist ein Ereigniss, das nicht seines Gleichen hat, eine wirkliche Katastrophe. Wer über sie aufklärt, ist eine force majeure, ein Schicksal, – er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm...« So heißt es in Ecce homo. In einer Vorfassung liest es sich noch pointierter: »er ist das Schicksal selbst, er bricht [in seiner Hand] die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften auseinander – in ein Vorher, in ein Nachher...«

Soll heißen: mit der ›Aufklärung‹ der Katastrophe, welche die christliche Moral über die europäische Welt gebracht hat, erscheint ein Denken, das an der Zeit ist, weil mit ihm, durch es eine neue Art zu denken, eine neue Zeitrechnung beginnt. Zwar hat es den Anschein, dass die Zeit vorerst keine Notiz davon nimmt. Aber dieses Vorerst gilt es genauer zu analysieren. Es verrät eine auf Dauer unhaltbare Blockade der Gehirne durch Gewohnheiten des Wahrnehmens, Fühlens und Denkens, von denen noch nicht begriffen wurde, dass sie allesamt in Klammern gesetzt werden können und dass dies bereits geschieht, dass es gerade geschieht. Das Denken, das an der Zeit ist, entwertet die gedachte Gegenwart bis ins zweite und dritte Glied.

Vielleicht zeigt sich der Anti-Hegelianismus Nietzsches vor aller Begriffsgymnastik in diesem Gestus seines Philosophierens. Es sind nicht die Vergangenheiten, es ist die Gegenwart, deren Hinfälligkeit exekutiert wird. In seinen Schriften übt sich der Intellekt darin, abzufertigen, was ist, in einem Atemzug damit sich selbst abzufertigen und vor sich herzutreiben, um Nicht-Örter zu schaffen für den ominösen Entwurf einer Zukunft, wie sie niemals war und doch immer wieder gewesen sein wird. Diese Zukunft strahlt zurück auf die vernichtete Gegenwart, den entleerten Raum, in dem mit dem Neuen das Älteste aufblitzt, den Raum der Epiphanie. Seit Nietzsche gehört das Raunen über den ›utopischen Goldgrund‹ der Geschichte (Bloch) zur intellektuellen Standardausrüstung, ohne die sich die Besteigung selbst mittlerer Problemgipfel von selbst verbietet. Bei Nichtbeachtung droht der Entzug der Denklizenz, der Vorwurf, nicht begriffen zu haben, was an der Zeit ist, was demnach ›geht‹ und was ›nicht geht‹ und aus welchen Motiven sich das ›gegenwärtige Denken‹ gefälligst zu speisen habe. Kratzt man im stillen an jenen Vorgaben, so kommt unter der dünnen Folie des Modischen oder des ›Sachproblems‹ gewöhnlich ein verschwiegener Nietzscheanismus zum Vorschein. Um Nietzscheaner zu sein, ist es nicht unbedingt nötig, ihn auch zu lesen. Es empfiehlt sich aber – so oder so.

Die moderne Kritik – die Kritik der Moderne – verrät an der Stelle eine Ambivalenz, die manche Stilisierung erklärt. Sie ist – als Abfertigung – eine Kritik mit schlechtem Gewissen, eine Kritik des schlechten Gewissens. Wie später Freud erklärt Nietzsche das Gewissen (den grenzenlosen Gehorsam nach dem als Ursprung gesetzten ›Verbrechen‹) zum verschwiegenen Motor des Zivilisationsprozesses. Das Gewissen steht am Eingang wie am Ausgang der moralischen Epoche: als schlechtes Gewissen am Anfang, als intellektuelle Redlichkeit an ihrem Ende. Doch auch die raffiniert gewordene Intellektualität bleibt ›schlechtes Gewissen‹. Sie bleibt, was sie war und was sie nicht bleiben darf, wenn das Projekt – Nietzsches ›Umwertung aller Werte‹ – gelingen soll. Sie bleibt Kritik und muss die Tendenz zur Kritik Lügen strafen, also kritisieren. Auf die kritisierte ›Zeit‹ umgelegt heißt das: Die Schätzung aller in ihr wirksamen Kräfte muss zu dem Ergebnis kommen, dass in ihr alle Kräfte wirksam sind. Alle Kräfte: alles, was war, ist und sein wird, wirkt heute.

Somit sind in der Kritik zwei Tendenzen am Zug – eine negativ und eine positiv überschreitende. Beide finden ihren Gegenstand unerschöpflich; die eine als falsche Tendenz, die andere als Anlass zur Inszenierung. Dieser Gegenstand ist die Moderne – die Welt all derer, die nichts begriffen haben. Sie haben nichts begriffen, denn sie repräsentieren die décadence. Andererseits gilt, dass sie als die zufälligen Platzhalter derer, die begriffen haben werden, im Heute ebensosehr das ›Werden‹ repräsentieren wie diese künftig. Décadence ist ein Erscheinungsbild der Vitalität, die Moderne ein ›physiologischer Selbst-Widerspruch‹. Daraus folgt, dass die ›Krankheit‹der Zeit nur von außen, von jenseits des Bewusstseins geheilt werden kann. Man wird sehen, wie die Natur würfelt. Negative und positive Kritik, Diagnose und Therapie sind die Stellvertreter des ›Noch-nicht‹, des ›Novum‹ wie es dann bei Bloch heißen wird, Würfe ins Ungefähre auch sie. Die Vorstellung von der Moderne als Wartesaal nimmt hier ihren Anfang. Sie verlangt nach dem Regisseur der Ungeduld, der ohne Umschweife zu verstehen gibt, er besitze die untrügliche Witterung für das Kommende. Auf seiner wirklichen oder vermeintlichen Spur organisieren die ›barfüßigen Propheten‹ und schreibenden Paraklete der alsbald aufbrechenden Sinn- und Wirtschaftskrisen ihre Kreuz- und Querfahrten durch die Wüste, genannt ›modernes Leben‹, ›moderner Mensch‹, ›moderne Gesellschaft‹. Man kann doch nicht die Hände in den Schoß legen. Nein, man muss entweder im Beruf das Karma des modernen Menschen entdecken – angeschmiedet an den Prometheusfelsen der Gegenwart seine Pflicht erfüllen – oder zur Aktion schreiten, welchem Einfall auch immer folgend. Intellektualismus ist Zeitvertreib auf – gelegentlich – hohem Niveau. Nicht aus ennui, sondern aus Erwartung. Es hat geblitzt, und nun soll es auch donnern.

 

6.

Von der Einklammerung aller bisherigen Geschichte spricht das ›Räthsel‹ im dritten Teil des Zarathustra.

Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng.
Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest.
Meine Hand riss die Schlange und riss: – umsonst! sie riss die Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: ›Beiss zu! Beiss zu!
Den Kopf ab! Beiss zu!‹ – so schrie es aus mir, mein Grauen, mein Hass, mein Ekel, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie mit Einem Schrei aus mir. –
Ihr Kühnen um mich! Ihr Sucher, Versucher, und wer von euch mit listigen Segeln sich in unerforschte Meere einschiffte! Ihr Räthsel-Frohen!
So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten!
Denn ein Gesicht war’s und ein Vorhersehn: – was sah ich damals im Gleichnisse? Und wer ist, der einst noch kommen muss?
Wer ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? Wer ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?
– Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange –: und sprang empor. –
Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher lachte! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie er lachte!
Oh meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war, – – und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird.

Im Abschnitt Der Genesende wird das ›Räthsel‹ gelüftet:

Der große Überdruss am Menschen – der würgte mich und war mir in den Schlund gekrochen; und was der Wahrsager wahrsagte: ›Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, Wissen würgt.‹

Zarathustra also ist der Mensch, der den Übermenschen aus sich hervorbringt, die schwarze, schwere Schlange des ›Überdrusses am Menschen‹ und der Erfahrung, dass ›Wissen würgt‹. Mit dieser Auskunft knüpft Zarathustra an ein frühes Thema des Autors an, die Notwendigkeit, um des ›Lebens‹ willen die historische Bildung einzugrenzen und zu instrumentalisieren. In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung wurde die » Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll «, zur Urheberin des modernen Debakels der Formlosigkeit des Lebens erhoben: »alle Grenzpfähle sind umgerissen und alles was einmal war, stürzt auf den Menschen zu. So weit zurück es ein Werden gab, soweit zurück, ins Unendliche hinein, sind auch alle Perspektiven verschoben. Ein solches unüberschaubares Schauspiel sah noch kein Geschlecht ... Machen wir uns jetzt ein Bild von dem geistigen Vorgange, der hierdurch in der Seele des modernen Menschen herbeigeführt wird. Das historische Wissen strömt aus unversieglichen Quellen immer von Neuem hinzu und hinein, das Fremde und Zusammenhanglose drängt sich, das Gedächtniss öffnet alle seine Thore und ist doch nicht weit genug geöffnet, die Natur bemüht sich auf’s Höchste, diese fremden Gäste zu empfangen, zu ordnen und zu ehren, diese selbst aber sind im Kampfe mit einander, und es scheint nöthig, sie alle zu bezwingen und zu bewältigen, um nicht selbst an ihrem Kampfe zu Grunde zu gehen. Die Gewöhnung an ein solches unordentliches, stürmisches und kämpfendes Hauswesen wird allmählich zu einer zweiten Natur ... Der moderne Mensch schleppt zuletzt eine ungeheure Menge von unverdaulichen Wissenssteinen mit sich herum, die dann bei Gelegenheit auch ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heisst.«

Der Gegenstand hat sich seither als außerordentlich dankbar erwiesen. Dem heutigen Blick fällt auf, wie selbstverständlich Nietzsche die virtuelle Gleichzeitigkeit der Kulturen vor dem wissenschaftlichen Blick in räumliche Metaphern übersetzt: die ausgerissenen Grenzpfähle, das Einströmen des Fremden, der Kampf der ›fremden Gäste‹ auf dem angestammten Territorium – man hört bereits den Hohn über die ›Gäste‹ heraus –, schließlich der Ruf nach der Polizei: dies alles mutet seltsam vertraut an und lässt nach dem ethnographischen ›Subtext‹ der Passage fragen. Damit wechselt das Bild, und es erscheint, ins Märchen verkleidet, das Motiv der Nahrungsaufnahme: Was da zu schwer und gänzlich unverdaulich im Magen liegt, das ist das Wissen um die Überlieferung aller Zeiten und Völker, als ›Bildung‹ deklariert.

In Schopenhauer als Erzieher nähert sich Nietzsche dem Thema über ein Gedankenexperiment. »Ich ergötze mich an der Vorstellung«, heißt es da, »dass die Menschen bald einmal das Lesen satt bekommen werden und die Schriftsteller dazu, dass der Gelehrte eines Tages sich besinnt, sein Testament macht und verordnet, sein Leichnam solle inmitten seiner Bücher, zumal seiner eignen Schriften, verbrannt werden. Und wenn die Wälder immer spärlicher werden sollten, möchte es nicht irgendwann einmal an der Zeit sein, die Bibliotheken als Holz, Stroh und Gestrüpp zu behandeln? Sind doch die meisten Bücher aus Rauch und Dampf der Köpfe geboren: so sollen sie auch wieder zu Rauch und Dampf werden. Und hatten sie kein Feuer in sich, so soll das Feuer sie dafür bestrafen.«

»Natürlich«, schreibt Finkielkraut über das ›Unbehagen in der Kultur‹, »zückt niemand mehr seinen Revolver, sobald er dieses Wort hört. Doch zücken immer mehr Menschen beim Wort ›Denken‹ ihre Kultur.« Das ist stark formuliert, aber schwach gedacht. Wenn es heißen soll, dass die Rede von der Kultur das Denken in dem Maß verhindert, in dem sie es beflügelt, dann erscheint es ratsam, Einspruch zu erheben. Die Selbstbehinderung des Denkens zeigt sich auf keiner Seite um Anlässe verlegen. Wie die Geschichte der Kulturen ist die der Vernunft die Geschichte ihrer Sedimentierungen. Nietzsches ethnographische Metapher bleibt auch in der Hinsicht – eine Metapher. Woran er durch alle Modifikationen hindurch festhält, bis in die Verknüpfung mit Zarathustras ›tiefstem Gedanken‹ der ewigen Wiederkunft hinein, das ist das Motiv der Lastenumkehr zwischen dem ›würgenden‹ Wissen des Gewesenen und den ›ewigen‹ Spielen des Werdens. Der kräftige Raubtierbiss befreit vor allem die Zunge von der ›Vormundschaft‹ des Unverdaulichen. Zarathustras ›Beiss zu!‹ entspricht dem in der Rede manifest werdenden Bedürfnis, kraftvoll und eigen zu verfügen – über sich, über anderes. Dagegen ist der entsicherte Browning auf dem Tisch des Hauses nur ein stummes Ding. Wenn es ›spricht‹, dann ausschließlich in der schmutzigen Phantasie dessen, der den Finger am Abzug hält. Nicht das Haus trifft die Drohung, sondern die Gäste.

Nicht ›vermitteln‹, ins Gleichgewicht, sondern aus dem Gleichgewicht bringen ist die Aufgabe dessen, der Zukunft in sich trägt. Was bleibt, ist ›Litteratur‹ – auf beiden Seiten der Waage. »Noch in diesem Sommer, zu einer Zeit, wo ich vielleicht mit meiner schwerwiegenden, zu schwer wiegenden Litteratur den ganzen Rest von Litteratur aus dem Gleichgewicht zu bringen vermöchte...« Die Herausgeber der kritischen Werkausgabe vermeiden es strikt, den pathologischen Bodensatz solcher Tiraden vergessen zu machen. Dabei eignet diesem Satz eine Nüchternheit, die sich erst dann erschließt, wenn man sich die unübersehbare Zahl berufener wie unberufener Nachfolger zum Original hinzudenkt, unter denen manch einer im nachhinein den Denker unter Kuratel stellen wollte, um sich in den unumschränkten Besitz seiner Lehre zu setzen. ›Beiss zu!‹: In der Formel wird die ›moderne‹ Erfahrung des In-Klammern-Setzens aller bisherigen ›Kultur‹ (der ›Wissenssteine‹ im Bauch der ›Kulturwissenschaften‹) Anspruch und Attitüde. Im Herzen der Zivilisation erglänzt der Fetisch der Differenz.

Was aber bedeutet der vom ›Hirten‹ abgebissene, ›weit weg‹ gespieene Kopf der Schlange? Denn etwas bedeuten soll er nach dem Willen des Autors. Der ›Kopf‹ des Wissens ist der (anlässlich der Geburt des Übermenschen ausgespieene) Mensch. Welcher? Der Mensch des Wissens? Der ›letzte Mensch‹? Der ›höhere Mensch‹? Aber keineswegs. Der ausgespieene Mensch ist die Summe seiner Geschichte.

Mit der Implementierung des großen Subjekts durch Rousseau überschreitet ›der Mensch‹ seine aristotelisch-scholastische Bestimmung als ›zoon politikon‹ und ›animal rationale‹. Zwischen ›Mensch‹ und ›Menschheit‹ öffnet sich der imaginäre Raum der gewollten Geschichte. Diese ›Menschheit‹ ist nicht die Gesamtheit aller Menschen, auch nicht jenes Teil, das sie vom Tier unterscheidet. Sie ist das im Einzelnen aufgerufene, tief empfundene, uneingegrenzte Wir, dem gegenüber das kleine Subjekt, das Individual-Ich, gleichzeitig die Rolle des Dieners und Liebhabers, des Zuträgers, des Retters und des Verräters übernimmt. Man sollte meinen, die Anonymität und irreduzible Vielheit des als ›Wille zur Macht‹ übersetzten Lebens verbiete Nietzsche die – im übrigen vieldeutige – Annahme eines Gattungssubjekts. Aber genausogut oder besser ließe sich umgekehrt argumentieren. Wenn ›Individuen‹ stets nur Kon- und Disgregationen von ›Kräften‹ sind, dann spricht nichts dagegen, sich Individuen jeden Komplexitätsgrades auszudenken. Warum nicht auch ein ›Gattungs‹-Subjekt, welches auf den Namen ›der Mensch‹ hört?

Den mentalen Charakter des großen Subjekts hätte man damit allerdings verfehlt. Überdies lässt die Genealogie der Moral keinen Zweifel in dieser Sache zu. Das Menschheits-Selbst gehört unter die Ausgeburten des Ressentiments, Rousseau zu den ›Unmöglichen‹. Es existiert, heißt das, es entfaltet seine Wirkungen, man muss es nur neu organisieren, ihm die Immoralität zurückgeben, die das 18. Jahrhundert mit Scheingründen überdeckte, um die wahren Menschheitsfragen ins Licht zu rücken. Die Preisfrage der Akademie von Dijon bleibt erhalten, es bleibt bei Rousseaus Nein, allein Opfer und Bösewicht tauschen die Seiten: »Wenn es wahr ist, dass unsre Zivilisation etwas Erbärmliches an sich hat: so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschließen ›diese erbärmliche Zivilisation ist Schuld an unsrer schlechten Moralität‹, oder gegen Rousseau zurückzuschließen ›unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation...‹« Die ›Moralität‹, wie Nietzsche sie verstanden wissen möchte, ist selbst ein ›Milieu‹ – ein seelisches –; nur deshalb kann die Rochade gelingen. Die Botschaft wechselt, das Denk- und Empfindungsmuster, hinreichend abstrakt genommen, bleibt ein und dasselbe. Mit Nietzsches Genealogie hält das Gattungssubjekt, befreit vom Ballast Hegelscher und Marxscher Begriffs- und Geschichtskonstruktionen, erneut Einzug in die Selbstauslegungsbräuche derer, die ungefähr zur gleichen Zeit lernen, sich als Intellektuelle aus antiintellektuellem Affekt (oder umgekehrt) zu gerieren.

Nun nimmt, wie bekannt, das von Nietzsche favorisierte Wir nur sehr bedingt die ganze Menschheit mit. Das Ideal der Starken verbietet es geradezu, sich auf ›demokratische‹ Weise auf das Schicksal der Gattung als solcher einzulassen. »Es handelt sich um den Typus: die Menschheit ist bloß das Versuchsmaterial, der ungeheure Überschuß des Mißrathenen,ein Trümmerfeld...« Umso unverhüllter tritt der imaginäre Charakter des Wir zutage. Und dementsprechend mehren sich die Chancen der Leser, ihn auszubeuten, um mit ihresgleichen zu kommunizieren. Das Spektrum ist übersichtlicher geworden. Es enthält Angebote gruppen-, nicht zuletzt berufsgruppenspezifischer und grenzenlos-schwärmerischer Identifikation: ›wir Psychologen‹, ›wir Philologen‹, ›wir freien Geister‹, ›wir guten Europäer‹. »Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft ... wir Argonauten des Ideals...« »Wir sind Hyperboreer ... Wir haben das Glück entdeckt, wir wissen den Weg, wir fanden den Ausgang aus ganzen Jahrtausenden des Labyrinths. Wer fand ihn sonst? – Der moderne Mensch etwa? ›Ich weiss nicht aus, noch ein; ich bin Alles, was nicht aus noch ein weiss‹ – seufzt der moderne Mensch...« Die große Geste deckt, sie überzeichnend, die Erfahrung der von Ernst Robert Curtius nach dem Ersten Weltkrieg so genannten ›Geistesarbeiter‹ (Mannheims ›freischwebender Intelligenz‹), gleichzeitig ›im Beruf‹ zu stehen und einer Klasse unverbundener Einzelner zuzugehören, die von den Akteuren des ›wirklichen sozialen Lebens‹ (und ihren Repräsentanten im eigenen Bewusstsein) gleichermaßen als Aussatz wie als Treibsatz der Gesellschaft empfunden und klassifiziert werden.

Der Selbstentwurf in Freiheit schafft eine Gemeinschaft jenseits der Gesetze, der Verträge und Institutionen. So jedenfalls meint es Deleuze: »Man ist eingeschifft: eine Art von Floß der Medusa, Geschosse, die um das Floß herum fallen, das Floß treibt in eisige Unterwasserströmungen oder auch in glühend heiße Flüsse, der Orinoko, der Amazonas – Leute rudern gemeinsam, die nicht als einander liebend angesehen werden können, die sich bekämpfen und gegenseitig auffressen wollen. Zusammen rudern bedeutet, miteinander teilen, sich in eine Sache teilen, außerhalb aller Gesetze, Verträge und Institutionen. Eine Strömung, eine Bewegung des Strömens oder der ›Deterritorialisierung‹«. Eine Gemeinschaft von Menschenfressern, vergleichbar der Mannschaft jenes famosen Arthur Gordon Pym? Es wäre nicht das Schlimmste. Warum nicht? Weil sie das Schlimmste immer schon hinter sich haben. Das große Subjekt hat sich ihrer bemächtigt und reißt sie durch Zeiten und Räume, ohne weitere Orientierung als den exotisch bebilderten Horizont des Imaginären, den »weitesten Horizont«, der sich, woran Poes Text gemahnt, beinahe übergangslos verengen kann: »Die Oberkante des Kataraktes verlor sich gänzlich in Fahlheit & Ferne. Doch offensichtlich ging’s auf ihn zu, mit grauser Behendigkeit. Zu Zeiten, doch momentan nur, wurden weite gaffende Spalten darin sichtbar; und aus diesen Spalten, in denen ein Chaos unscharfer Imagines flatterhaftete, kamen stürmisch & mächtig doch lautlos die Winde, und furchten den erleuchteten Ozean in ihren Lauf.«

 

7.

Niemand möge sich verheben. Das meiste von dem, was an Einschlägigem nach Nietzsche geschrieben wurde, wäre, so steht zu vermuten, so oder ähnlich auch dann zu Papier gebracht worden, wenn er nie gelebt hätte. Und doch... In seinen Schriften erwirbt das große Subjekt jene poröse Flächigkeit, jene ausdeutbare Schraffur, jene tumultuarische Apodiktizität, die es anderen erlaubten, sich die heterogenen Stoffmassen des Jahrhunderts in seinem Namen zuzueignen und zu buchstabieren. Um einen hohen Preis, den Preis aller Nachfolge. An die Stelle der Arbeit des Begriffs tritt die seelische Nachbereitung, die fortwährende Plausibilisierung des Unplausiblen im Lösemittel des erschütterten Herzens, der Ungeduld, die jede Gedankenreihe überfliegt, weil sie nach ›Aufschlüssen‹, genauer, nach Winken sucht, denen gemäß sich Heils- und Unheilslinie sondern, des Immer-schon-verstanden-Habens, des Auf-der-Höhe-und-Darüberhinausseins, des Bescheidwissens vor jedem Detail, der schwerelosen Kritik.

Dieser Denkungsart hat Deleuze im Nietzsche-Buch von 1962 ein – viele werden sagen: unumgängliches – Denkmal gesetzt. Nietzsche gegen Hegel lautet die Botschaft dieses Buches. Es handelt sich, gelernt ist gelernt, um eine frohe Botschaft mehr. Eine der Hauptfragen, die darin traktiert werden, heißt: Wie kommt es, dass die ›Gattungstätigkeit‹ die ›reaktive Tätigkeit‹ des Ressentiments nicht nur hervorbringt, sondern nach ihrem Hervortreten bis zur Unkenntlichkeit der Differenz mit ihr verschmilzt? Kann eine solche Gattungstätigkeit überhaupt gedacht werden? ›Reaktive Tätigkeit‹, wie sie hier exponiert wird, soll die Tätigkeit der Negation bedeuten, die von Hegel ›entdeckte‹ Bewegung des Begriffs. Gegen Hegel, so Deleuze, eröffnet Nietzsche eine neuartige Partie, insofern er das Parade- und Eingangsstück aller Dialektik, das unglückliche Bewusstsein, als schlechtes Gewissen buchstabiert und dadurch die Dialektik vor jeder bestimmten Negation außer Gefecht setzt. Und so löst sich das Problem: »Aus der ewigen Wiederkunft ist zu lernen, dass es keine Wiederkehr des Negativen gibt. Die ewige Wiederkunft bedeutet, dass das Sein Auslese, Züchtung ist. Nur das kehrt wieder, was selbst bejaht oder was bejaht wird ... Das Negative scheidet dahin, vor den Toren des Seins. Der Gegensatz stellt seine Arbeit ein und die Differenz beginnt mit ihren Spielen ... Nicht mehr Arbeit des Gegensatzes, kein Leiden des Negativen mehr, sondern kriegerisches Spiel der Differenz, Bejahung und Lust an der Zerstörung.«

Das wäre als Polemik nicht zu verachten, wenn dem Leser nicht zugleich die Abstrusität der Konstruktion auf dem Tablett serviert würde. Denn die ›Gattungstätigkeit‹ als Inbegriff der langwierigen, differenzierten und faktorenreichen Prozesse, in denen die Gattung ›befangen‹ bleibt, solange von ihr überhaupt die Rede sein kann, diese zusammengesetzte, unabschließbar-erschließbare ›Tätigkeit‹ ist dem Autor Hegel oder Hekuba. Er liefert sie mit einer einzigen Handbewegung an die Konzeptionen der als Subjekt gedachten Substanz und der dialektischen Selbstbewegung des Begriffs aus, ganz, als habe er mehr davon in der Tasche und es komme darauf nun wirklich nicht an, mit derlei Begriffen zu rechten. Wir Argonauten – heißt das –: geben wir doch einfach zu, was auf der Gegenseite gedacht wird – nicht einzeln, sondern in Bausch und Bogen. Achten wir darauf, dass dem ›Gattungssubjekt‹ kein Leid geschieht, und setzen wir den Gedanken der Überschreitung, nicht der bestimmten, in Arbeitszusammenhängen zu gewinnenden, sondern der Überschreitung als Gut, als etwas, das immer wieder guttut, hinzu: so sind wir schon immer an anderen Orten, in andere Diskurse verstrickt, dem Anderen zugewandt, die Erben Zarathustras, Privilegierte des fremden Blicks.

Ganz neu ist das nicht. Kierkegaards ›spermatischer Punkt‹ fixierte bereits ein analoges Verhältnis zur Dialektik. Dafür gewährt es die Maske der Kühnheit, passend zum Kostüm des Kriegers (ein weiterer, längst erkalteter und mit Lust wieder angewärmter Nietzscheanismus), in dem sich der Intellektuelle zu denen gesellt, die, wie es in Mille plateaux heißen wird, sich im ›glatten Raum‹ des Nomaden bewegen und nicht im ›gekerbten Raum‹ des Sesshaften. »Im einen Fall wird sogar die Wüste organisiert; im anderen Fall gewinnt und wächst die Wüste; und das beides zugleich.«

Sesshafter und Nomade bewohnen zwar unterschiedliche Räume. Doch diese Räume sind ein und derselbe – wie anders sollten De- und Reterritorialisierung sonst möglich sein? Er ist ein anderer und doch derselbe, er ist als derselbe ein anderer. Das wirft die Frage auf, wer hier die Einheit desselben und anderen bedenkt. Kommt da ein Dritter ins Spiel? Oder ist es nicht vielmehr das ungewollte Eingeständnis des ›Kriegers‹, beim Abzählen durch die Finger gesehen zu haben, das heißt, ein Wissen zurückzuhalten und zu benützen, das nicht zu besitzen seine Rede vorgaukelt? Im Nietzsche-Buch las man noch: »nachdem der Mensch Gott von seinem Thron verdrängt hat, wird der Esel Freigeist ... Den Staat, die Religion usw. gewinnt er als eigene Mächte zurück ... Welch grausiger Hang zu Verantwortlichkeiten: und schon kommt auch die ganze Moral im Galopp wieder zurückgeprescht. Bei diesem Ausgang der Geschichte aber bleiben das Wirkliche und seine Annahme, was sie stets noch waren: falsche Positivität und falsche Bejahung.« Später schlagen Deleuze / Guattari andere Töne an: »die philosophischen Werke und die Kunstwerke enthalten ihre unvorstellbare Summe an Schmerzen, die das Kommen eines Volkes ahnen lässt ... Kurzum, die Philosophie reterritorialisiert sich dreimal: einmal in der Vergangenheit an den Griechen, einmal in der Gegenwart am demokratischen Staat, einmal in der Zukunft am neuen Volk und an der neuen Erde.« Nicht zu vergessen: »Griechen und Demokraten unterliegen einer seltsamen Deformierung in diesem Spiegel der Zukunft.« Davon darf man ausgehen. So reist, wie Bloch einmal anmerkte, alles wahrhaft Informierende der Menschheit auf dem gleichen Schiff.

Resümieren wir: Im Wechsel der De- und Reterritorialisierungen streift die vertraute ›Figur der Grenzüberschreitung‹ des unglücklichen Bewusstseins ihr Unglück ab und wird kenntlich als das, was sie ohnehin immer war: als Bejahung, die nichts bejaht, als Jafort. Warum nicht? Warum nicht als ›Affirmation der Teilung‹? Auch das lässt sich sagen, meint Foucault, dessen Metaphorik ubiquitärer Überschreitung ihre Anziehungskraft auf jung gebliebene Herzen gewiss noch eine Weile bewahren wird. Und sei es nur, weil sie es standhaft versäumt – oder verweigert –, das geliebte Denkbild aus seiner Isolation zu entlassen und in die denkende Gesellschaft zu reintegrieren: »Die Überschreitung verhält sich also zur Grenze nicht wie das Schwarze zum Weißen, das Verbotene zum Erlaubten, das Äußere zum Inneren, das Ausgeschlossene zum geschützten Heim. Sie ist in sie eingebohrt und kann nicht einfach abgelöst werden. In der Nacht, die dem von ihr Verneinten seit jeher ein dichtes und dunkles Sein gibt, erleuchtet sie vielleicht etwas wie ein Blitz von innen und von Grund auf und verdankt ihr gleichwohl seine lebendige Klarheit, seine zerreißende und aufgebäumte Einzigartigkeit, verliert sich im Raum ihrer Souveränität und verstummt, nachdem es dem Dunkel einen Namen gegeben hat ... Nichts in der Überschreitung ist negativ. Sie bejaht das begrenzte Sein, sie bejaht jenes Unbegrenzte, in welches sie ausbricht und das sie damit erstmals der Existenz erschließt. Doch kann man auch sagen, dass diese Affirmation nichts Positives hat: kein Inhalt kann sie binden, da keine Grenze sie zurückhalten kann. Vielleicht ist sie nichts anderes als die Affirmation der Teilung. Man muss aber von diesem Wort alles fernhalten, was an Einschnitt, Trennung oder Distanz erinnert, und es nur das Sein der Differenz bezeichnen lassen ... Dort, in der überschrittenen Grenze hallt das JA der Kontestation wieder, welches das IA von Nietzsches Esel ohne Echo lässt.« Und so fort.

Jacques Derrida wurde da schon genauer. In Les fins de l’homme (1968) erläuterte er: »Die Kraft und die Wirksamkeit des Systems gerade transformieren die Überschreitungen regelmäßig in ›blinde Ausgänge‹.« Daher gebe es »vom Innen her, wo ›wir sind‹, nur die Wahl zwischen zwei Strategien:

a) den Ausgang und die Dekonstruktion zu versuchen, ohne den Standort zu wechseln, durch die Wiederholung des Impliziten in den grundlegenden Begriffen und in der ursprünglichen Problematik ... Die Gefahr besteht hier darin, gerade das, was man zu dekonstruieren meint, in immer sichererer Tiefe unaufhörlich zu konsolidieren und aufzuheben. Die kontinuierliche Explikation auf eine Eröffnung hin läuft Gefahr, im Autismus der Umschließung zu versinken;
b) einen Wechsel des Standortes zu beschließen, auf diskontinuierliche und plötzliche Weise, durch ein brutales Sich-außen-Einrichten und durch die Affirmation absoluten Bruches und absoluter Differenz. Ohne von allen anderen Formen einer auf optischer Täuschung beruhenden Perspektive zu sprechen, zu denen eine solche Verschiebung sich vereinnahmen lassen kann, wo dann nur naiver und direkter denn je das Innen bewohnt wird, das man zu verlassen behauptet, holt der einfache Gebrauch der Sprache unaufhörlich den ›neuen‹ Standort auf ältesten Boden zurück.«

 

8.

Das Endeder Kritik entlässt die Frage Was ist Kritik? in ungewohnte Zusammenhänge. Kann es überhaupt ein Ende geben, wenn ihr Sinn doch die ›Entunterwerfung‹ ist, der Aufstand der heimlichen ›Starken‹, von denen die unverbrauchten Anfänge der Gattung erzählen, gegen die organisierten ›Schwachen‹, deren Stärke sich der Position verdankt, die ihnen eine unentwegt ›Sinn‹ und ›Unsinn‹, ›Wahrheit‹ und ›Falschheit‹, ›Recht‹ und ›Unrecht‹ sortierende ›Maschine‹ zuweist? Wenn ja, dann deshalb, weil auch dieser Sinn keineswegs hält, was er verspricht. Das ist kein Geheimnis; im Gegenteil, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Das Ende der Kritik kommt nicht über Nacht, es kommt als Entkräftung. Der Kult der leeren Differenz bringt sie an den Tag, er bezeugt das Fortschreiten der Entkräftung, der die Kritik unterliegt, seit sie sich als eine des ›reinen‹ Intellektualismus – dieses Phantoms, das sich eine von Seelenangst ergriffene Generation von Sinnsuchern zurechtmachte und mehreren Generationen militanter Gemeinschaftsfetischisten hinterließ –, als operative Lebensmacht in Szene setzt. Die Geschichte dieser Kritik ist die Geschichte ihrer Entkräftung.

Nimmt man die drei symbolischen Dialekte der ›Politik‹, der ›Ökonomie‹ und der ›Kunst‹ zusammen, in die sich die Kritik an der Moderne verzweigt, so fällt auf, dass jene Differenz, von der sie alle beharrlich künden, ein Problem aufwirft, so einfach, dass es unendlich schwerfällt, es gleichzeitig zu benennen und in seiner Simplizität zu belassen. Die intellektuelle Politik – Nietzsches ›große Politik‹, die bei Deleuze / Guattari als ›Mikropolitik‹ der ideologischen Aufsicht entschlüpft und in den globalen ›Netzwerk‹-Phantasien der Achtziger Jahre umgeht –, das Aufzeigen ›verdrängter‹ ›Ökonomien‹, etwa durch die Psychoanalyse, in den verschiedenen Lebensbereichen und schließlich die allseits gehätschelte Überzeugung von der Kompensationsfunktion der Kunst: sie alle beruhen auf Ideen – man könnte sie ruhig ›Einfälle‹ nennen, ohne ihnen etwas von ihrer Brisanz zu nehmen –, die, der Einsicht in die Endlichkeit des Denkens zufolge, nur transitorischen Charakter haben und im Grunde nicht mehr enthalten dürfen als die Aufforderung, sie schöpferisch zu übersteigen. Denn darin bestand ja die Kritik: das Selbstmissverständnis des Intellektualismus praktisch auszuräumen, es könne so etwas wie stabile Ideen geben, in denen sich das, was ist, zeigt, weil es in ihnen gedacht ist. Doch jene so ganz anders gedachten transitorischen Ideen zeigen sich am Ende eines Jahrhunderts praktischer Erprobungen und stetiger Revisionen unverändert in alter Kühle; die Revisionen selbst demonstrieren ebensoviele und erfinderisch vielfältige Weisen, auf sie zurückzukommen, und die durchlaufenen Extreme der politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Praxis scheinen im nachhinein nur die Ausgangslage schärfer herauszuheben, die sie wie selbstverständlich beheben sollten. Das ›neuerwachte‹, in Wirklichkeit niemals eingeschlafene Interesse an Theorien, die das Stabile der Ausgangslage hervorhoben, ohne für dieses negative Wunder der Modernität andere Erklärungen anbieten zu können als das zutiefst unbefriedigende Bild der seel- und alternativlos sich reproduzierenden Maschine, findet hier seine Ursache. Aber diese Theorien geben das Geheimnis nicht preis, um dessen willen man sie umschleicht. Sie können es nicht preisgeben, weil sie es nicht enthalten. Sie können es nicht enthalten, weil es heißt, kein Geheimnis zu verraten, wenn man darauf hinweist, dass die Überzeugungen, vor deren Hintergrund sie entworfen wurden, beides, die falsche Stabilität und den leeren Wechsel, die als Überschreitung inszenierte Variation, festgeschrieben haben. Wer den Katalog angeblich unverzichtbarer Anforderungen an ein jedes ›Denken, das an der Zeit ist‹, im voraus akzeptiert hat, darf sich über die Monotonie der Griffe, ungeachtet des Geschicks aller Beteiligten, immer neue Zusammenhänge zu erschließen, nicht wundern.

Man kann die früh getroffene Feststellung Mannheims, das Spektrum der Ideen sei hinreichend bekannt, es frage sich immer nur, welche Gruppierung sich ihrer zu welchen Zwecken bediene, mit einem gewissen Recht als einen naiven Ausdruck dieses Sachverhalts durchgehen lassen. Wer vom überschreitenden, mobilen und fungiblen Sinn der Ideen, der Unhintergehbarkeit der Frage nach ihrer Bedeutung in der Praxis (nicht etwa für die Praxis) überzeugt ist, dem mag der Gedanke an ein Auftauchen prinzipiell andersartiger Ideen nicht schmecken. Er muss ihn sich verkneifen – und bringt sich damit um die Möglichkeit, ihresgleichen überhaupt wahrzunehmen. Der in die Überschreitung verlegte Sinn der Ideen verhindert zuverlässig das Auftauchen von Ideen, die sich der Praxis der Überschreitung entziehen, am Horizont der achtbaren Begriffe. Das fraglose Fixiertsein auf die uneinholbar gedachte Praxis, die blinde Selbstauslieferung des Denkens an nahezu jede Bewegung, die das simple Schema statisch / dynamisch für sich zu reklamieren versteht und den Anspruch vor alle Türen trägt, das Leben lebenswerter und die Zukunft offener zu gestalten, erzeugt jenen geschlossenen Horizont, innerhalb dessen eine ebenso unbefriedigte wie abgebrühte Neugier sich vergeblich die Hacken abläuft, um nichts zu verpassen, falls das ausstehende Andere wider Erwarten doch einmal durch die Dämme des Bestehenden brechen sollte.

Die Intellektuellen haben nicht die Ideen verraten, schon gar nicht ›die‹ Idee. Sie haben nichts verraten, was man nicht im voraus hätte wissen können. Sie haben nichts verraten, sie haben das Geheimnis des Werdens für sich behalten – bis ans Ende ihrer zu Zeiten als unerschöpflich geltenden Produktivität. Sie hätten es nicht lüften können, auch wenn sie es gewollt hätten, weil es mit ihrer Produktivität eins war. Es konnte nicht ausbleiben, dass in dem Maß, in dem letztere sich erschöpfte und ›sekundär‹ wurde, das Geheimnis ins Gerede kam, als leer denunziert beim politischen Gegner und als inkalkulabel gesetzt bei den kanonisierten Vordenkern der Moderne, deren Schriften ›wir‹ seit Jahrzehnten allererst in ihren Anfangsgründen zu buchstabieren versuchen. Dieses harmlose Wir der einander mit Achselzucken begegnenden Interpretengemeinden kultiviert unter allen schlagenden Techniken des Modernismus vor allem eine, die ihre Herkunft aus vormodernen Zeiten und Praktiken am wenigsten verleugnet – das Raunen. Reden über die Texte übersetzt das Raunen über das Schicksal der Welt und ihre wahren Bestimmungsmächte in ein Raunen über die Mehrstimmigkeit von Texten, an denen nichts mehr stimmt außer ihrer ›Rhetorik‹. Gerade daraus lässt sich lernen. Die immer vorausgesetzte Diaphanie der Texte, ihre geheiligte Durchlässigkeit für das Andere, auf dem ein schwer zu ertragendes Schweigegebot lastet, bezeugt die ungebrochene Wirksamkeit des schlechten Gewissens, wenn man es, Nietzsche folgend, als die Instanz verstehen will, die einerseits die Enträtselung der Texte vorantreibt (die Enthüllungskampagne des Nichts-anderes-als) und andererseits auf ihrem fortgesetzten Rätselcharakter besteht, weil anders die abzutragende Daseinsschuld sich als endlich erwiese. Das schlechte Gewissen überdauert also das unglückliche Bewusstsein. Wie selbstverständlich liegt es vor dessen Hinterlassenschaft auf den Knien, weil es anders nicht wüsste, was es dort noch zu suchen hätte.

 

* * *

Es sind nicht die Programme, die weiterhin, als sei noch nichts geschehen, Aufschluss geben über die Frage, was die Kritik definitiv sei, sondern es ist der Blick auf das, worin sie sich letztlich erschöpft – die Applikation der Sinnsuche, der ›Recherche‹, wie sie im Seminarjargon heißt, der ›Jagd‹ nach dem verborgenen Detail, die sich im fiebrigen Blick der jungen und im missbilligenden Kopfschütteln der alten Hasen bekundet. Allzuleicht wird übersehen, dass derlei ›Suche‹ relativ sinnarme Strukturen voraussetzt, in deren Medium sie sich bewegt und denen sie ihre Hilfsmittel und das jeweilige Vokabular ihres ›Anliegens‹ entnimmt. Eine Topik der Kritik hätte solche ›sinnarmen Strukturen‹ aufzulisten und ihre Bedeutung für das Geschäft der Kritik zu entfalten.

An erster Stelle unter ihnen steht – wie es sich gehört – die ›antiintellektualistische‹ Verschiebung der ›Ideen‹, die, so unterschiedlich man sie im Schlagabtausch der Gesinnungen auch instrumentiert, tatsächlich immer gleich fragwürdig bleibt. Mit ihr beginnt das Spiel; die Weigerung, sich ihrem Terror zu beugen, führt es an seine Grenzen.

An zweiter Stelle steht das Raunen, die Krisenrede, die Einflüsterung, zu wissen, was an der Zeit sei, zusammen mit der Bereitschaft, die Zukunft der Menschheit und den Einsatz der eigenen Person in diesem einen Punkt zusammenfallen zu lassen. Alle Versuche in der Kunst, die Geschichte der Menschheit in zwei Teile zu zerlegen, in eine bisherige und in eine zukünftige, wobei jedesmal nur der Bruch mit ersterer geeignet erscheint, die letztere heraufzuführen, bezeugen eine Naivität, die mit dem Anspruch, gedanklich jetzt und hier auf dem Quivive zu sein, dauerhaft kollidiert, ohne von ihm zu lassen: die spezifische Naivität des Intellektuellen. Die Grundform dieser Naivität – und der Art von Gewitztheit, die sich im Raunen bekundet – ist das Misstrauen gegen das, was in den Zeitungen steht und was die Medien berichten. Dabei steht nicht in Frage, ob und wie weit dieses Misstrauen gerechtfertigt sei, sondern in welche Richtung es treibt, welche Literatur es produziert, sobald der Verdacht gehätschelt, mit Bildungsstoff ausstaffiert und mit einem Ernst angereichert wird, der sich gegen das Erscheinungsbild der verkehrten Welt wendet, weil anders das Leben – das eigene eingeschlossen – in die Niederungen der Sinnlosigkeit entgleiten würde, in denen es sich wohlsein lässt, wer vom Ganzen nichts weiß oder von ihm in Ruhe gelassen zu werden wünscht.

Intellektualismus, das ist in einer Hinsicht die Selbstauslieferung des Denkens an das Gerücht. In anderer Hinsicht ist sie seine Auslieferung an Alternativen, deren Unhaltbarkeit oder Verwerflichkeit die jeweils andere Fraktion schon zu demonstrieren unterwegs ist. Das Wertetheater, Webers Kampf der Götter, in dem Entschiedenheitspathos und Entscheidungsschwäche ihren Pas de deux tanzen, als sei die Welt um sie herum bereits versunken, bedarf entschieden der Binarität: Wert und Unwert, bürgerliche Moral und Antimoral, Individualwert und Gemeinschaftswert, Anti-Ethnozentrismus und Anti-Anti-Ethnozentrismus, Aufbruch und Entlastung. Jeder weiß, dass der Gegensatz unhaltbar ist, lächerlich und ein Ärgernis, und dass es nur eines Nichts bedürfte, um in die Argumente der Gegenseite einzustimmen. Eben deshalb muss die Differenz gut sichtbar befestigt, muss sie höher und höher getrieben werden, auf dass sie nicht verlorengehe in jener Nacht, in der alle Katzen grau und alle Handlungen mies sind. Nur der Mittler hat, wie stets, nichts begriffen.

Topographien und Genealogien schließlich sind gängige Hilfsmittel, die Welt lesbar zu machen und den einmal eingenommenen Standpunkt zu sichern. Allein der Blick auf die Karte macht manches verständlich: West und Ost, Nord und Süd, das leuchtet ein, das sind schon Gegensätze vor jedem Gegensatz. So spricht nichts dagegen, dass jeder seinen Westen und seinen Osten, seinen Süden und seinen Norden in sich trägt, dass alles symbolisch und doppelt ist und ein Netz bildet, dem sich keiner entziehen kann. Ein Netz, dessen Maschen sich beliebig weit oder eng ziehen lassen: Turin und Paris, Bonn oder Weimar, Berlin – New York, die Maulwurfsgänge der Reflexion, die Wege und Abwege in Kafkas Schloss, Marcels Venedig und Leverkühns Kaisersaschern. Von Otaheite zum amerikanischen Mittelwesten, von der Tauentzienstraße der Dreißiger zum Ku-Damm der Sechziger Jahre, vom Stammhirn zur Rinde: alles atmet Bedeutsamkeit, alles wartet darauf, sein Parfum preiszugeben und eine Möglichkeit, das Menschsein zu buchstabieren, aus sich zu entlassen. Wer immer den Ausdruck Topographie des Grauens prägte, er wusste nicht, was er tat. Alles ist deutbar und deutet, bei abgeschatteter Reflexion, sich selbst.

Gut plaziert ist so gut wie begründet: Was im Raum gilt, das gilt in der Zeit. Genealogien dienen wie eh und je der Vergewisserung, auf der richtigen Seite zu stehen. Jeder weiß, wie Geschichten zustandekommen, die etwas erklären sollen. Das verstärkt ihren Reiz, da jeder mitreden kann. Und so geschieht es. Anders als Topographien scheinen Genealogien beliebig vermehrbar zu sein. Jeder hat seine und niemand kann sie ihm nehmen. Doch weit gefehlt: eine gute, eine kritische Genealogie darf wortreich nur immer dieselbe Verlustgeschichte erzählen, an deren vorläufigem Ende das Unbehagen in der Kultur seine Zelte aufschlägt und danach verlangt, von den Töchtern des Landes verwöhnt zu werden wie einst Sartre auf seinen Reisen. Denn sie erzählt vom Verlust des einfachen Seins, von den Anfängen der Differenzierung und von der großen Differenz, die im Individuum das zerstückelt und verstreut, was gegen alle Differenzierung aufbegehrt: seine Seele. Das kritische Bewusstsein, in Geschichten verstrickt zu sein, das ist die Apotheose des Stricks, an dessen Ende das Bild der ›Seele‹ baumelt. Das Ende der Fahnenstange aber ist dort erreicht, wo eine alle Inhalte energisch von sich weisende Kritik, flüchtig aus ihren zerstreuten Lektüren hochblickend, die eigenen Mitmenschen nur noch in der Alternative von Fanatiker und Zombie wahrzunehmen vermag.

Die heutigen Europäer haben keine Seele. Es verlangt sie nicht mehr nach Erlösung; dem wortreich vollzogenen Abschied vom Glauben an einen persönlichen Gott folgte der unaufgeregte Abschied von dem Drang nach der indefiniten Überschreitung und der Heimkehr ins Unvordenkliche. Ob sich die Kirchen, je nach der politischen Konjunktur, leeren oder füllen, ob der Anteil der Weiß nicht-Antworten bei den üblichen Umfragen kontinuierlich steigt oder sich in Wellenlinien kräuselt, ist weitgehend ohne Belang. In ihrem Alltagsbewusstsein wissen alle, was es bedeutet, mit einer Passion ›durch‹ zu sein, und zeigen keinerlei wirkliche Anstrengung, sie erneut ›zum Leben zu erwecken‹. Viele mögen das bedauern, doch auch bei ihnen hält sich der Affekt an die Konventionen des Ausdrucks. Merkwürdigerweise bringt diese Tatsache die Europäer dem Rest der Welt näher, als ihre verflossenen Exaltationen es vermochten. Das liegt nicht daran, dass eine Weltgemeinschaft der Abgeklärten in Sicht wäre; auf sie wird man lange warten. Es liegt daran, dass jene leidenschaftlich durchlittene Modernität nicht länger als Trennscheibe zwischen der einen westlichen Kultur und den stets im Plural verhandelten Kulturen des restlichen Planeten steht. Was an Modernität bleibt – der Aufsatz der ›modernen‹ Verkehrs- und Wirtschaftsformen –, geht gleichermaßen alle an, unabhängig, ob sie sich als Sieger oder Verlierer des Weltprozesses verstehen oder ob sie gerade dabei sind, das Blatt zu wenden.