Für Ritualforscher gehört die Verwandlung von Theorie in Alltagshandeln zu den lehrreichsten Vorgängen. Das Erscheinen eines neuen Virus ist wie das Auftauchen eines Usurpators, der die geheiligten Rechte der Zivilisation über den Haufen wirft und zeigt, wozu rohe Gewalt imstande ist. Wozu, nebenbei, ist sie imstande? Roh mag sie sein, roh mag sie wirken, aber eines kann sie nie: Gewalt kann nicht nackt bleiben. Kaum in Erscheinung getreten, begibt sie sich unter das Gewand der Deutungen, wie abstrus sie auch sein mögen. Die Menschen müssen sich etwas ›dabei‹ denken können, andernfalls parieren sie nicht. Quasi über Nacht wird aus Gewalt Macht, wirkliche Macht, mit Verordnungen, Regeln, Ausführungs­-Hierarchien, die, folgt man ihrem Wortlaut, nur das eine bezwecken: die eingetretene Gefahr für Leib und Leben zu bannen, soll heißen, die – von wem oder was auch immer – gebrochene Ordnung wieder herzustellen. Das Virus bietet das paradoxe Beispiel eines eingedrungenen Feindes, dessen Regime sich durch den Kampf gegen ihn rechtfertigt. Die Theorie erklärt ihn zum Herrscher über die ›Gemeinschaft‹. Sie identifiziert ihn, sie beschreibt die von ihm ausgehende Gefahr, sie präjudiziert die zu ergreifenden Maßnahmen. Kurz, sie liefert jene Fakten, Fakten, Fakten, ohne die niemand wüsste, worum es sich dabei handelt und warum die Menschen sich fürchten. Tagaus tagein wird gestorben, in Betten und außerhalb, tagaus tagein wird an Krankheiten gelitten, von deren schierer Existenz das Gros der Menschen kaum mehr als den blassen Schimmer besitzt, der sie gefügig den Anweisungen der Ärzte Folge leisten lässt. Es bedarf schon der Bilder und der Statistiken, vor allem aber der alles verbindenden Theorie, um Menschen so zu ängstigen, dass sie begreifen: Das hier ist etwas Neues und ab jetzt bestimmt es unser Zusammenleben.

Was da ›bestimmen‹ heißt, ist ähnlich zweideutig wie das Virus selbst. Es definiert und verfügt. Die Definition enthält die Verfügung: Sie sperrt die Vorstellung in den Käfig der Befürchtungen, die dazu führen, dass alle Welt sich fügt, allen voran die staatlichen Gewalten, die geschaffen wurden, um ein Leben in Freiheit vor Furcht zu ermöglichen. Wirkliche Macht ist Definitionsmacht. Die Gefahr, die von aller Gewalt ausgeht – auch Krankheit ist eine Form nicht-intentionaler Gewalt –, wird von ihr veredelt zum Angriff auf unsere Lebensform, die wir aufgeben sollen, um sie zu bewahren: Gesunde unter dem Regime einer Krankheit, als deren Träger der Einzelne nur noch identifiziert werden muss – und in Bälde identifiziert wird –, um die ergriffenen und noch zu ergreifenden Maßnahmen zu rechtfertigen. Was fällt dem seit kurzem vom Virus genesenen Aspiranten auf das mächtigste Staatsamt als wichtigste Krisenmaßnahme ein? »Testen, testen, testen« – wer da nur den medizinischen Kontext sieht, der kennt die Regeln schlecht, nach denen wirkliche Menschen unter dem Dach der Realität zusammenleben. Wer noch nicht getestet ist, lautet die inhärente Regel, stellt eine Gefahr für die Gemeinschaft dar, latent, aber wirksam, desgleichen einer, dessen Test bereits eine Zeitlang zurückliegt (es sei denn, er ist immun) – also praktisch jeder, der sich nicht gerade im Erfassungsbereich der Behörde bewegt. Das ist es, was die sogenannten ›Idioten‹ des Widerstands auf die Palme bringt: kein guter Ort übrigens, auch der Überblick bleibt beschränkt.

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