Die Scham sagt: Senke den Blick! Sieh nicht hin! Wohin soll, wer sich schämt, nicht sehen? Nun: dorthin! Die Richtung also … er muss schon wissen, in welche Richtung zu blicken sich nicht schickt. Und nicht allein das: um Scham zu empfinden, muss jemand schon hingeblickt haben, er muss seinen Blick zurückgepfiffen haben, so wie man einen Hund zurückpfeift: Das ist nichts für dich. Warum? Was ist dort zu sehen? Die erste Antwort ist geschlechtlich: die Blöße des Anderen. Aber Blöße kann auch anders konnotiert sein: als Schwäche, etwa die eines gebrechlichen Menschen, die man diskret übersieht, es sei denn, sie tritt so eklatant hervor, dass stattdessen gesteigerte Aufmerksamkeit, gepaart mit Hilfeleistung, am Platz ist. Man übergeht die Schwäche des anderen, weil es sich nicht schickt, sie auszubeuten. Das kann die Schwäche des Älteren sein, der ein Regiment der Stärke ausübt, obwohl seine Körper- und, wer weiß, vielleicht auch seine Geisteskräfte ein solches Regiment nicht zu rechtfertigen vermögen, es kann eine Schwäche des Andersgeschlechtlichen sein, worin auch immer sie bestehen mag. Nur kindliche Schwäche geniert niemanden, weil sie, gleichermaßen registriert wie übergangen, an ihren eigenen Potenzialen gemessen wird, denn sie versteht sich von selbst. Nichts davon ist verordnet, jedenfalls nicht in dem Sinn, in dem die Schamgesellschaft von der ›Ressource‹ Scham Gebrauch macht. Gesellschaftlich verhängte Scham ist moralisch, jedenfalls gibt sie vor, es zu sein – es schickt sich für den Täter, sich seiner Tat zu schämen, das heißt, Schuldbewusstsein zu zeigen –, während sie in der Mehrzahl der Fälle auf einem a-moralischen Prinzip basiert: Dich trifft keine persönliche Schuld, also schäme dich. Warum? Weil man es von dir verlangt. Aber wer kann so etwas von dir verlangen? Wäre er ein Einzelner, du führest wie von der Tarantel gestochen auf und bezichtigtest ihn der Falschmünzerei. Wogegen du nichts auszurichten vermagst, ist die Gruppe, das Kollektiv, die Gemeinschaft. Wie kann sie Scham von dir verlangen? Sehr einfach: Gar nicht. Sie erwartet Scham – das ist der Trick. Die Schamerwartung der Gemeinschaft verwandelt das für seine Taten verantwortliche Individuum in eine Person, auf die gezählt werden darf: Sie hat eine Scharte auszuwetzen, sie darf sich bewähren. Anders als die traditionelle Schamkultur bedroht die Schamgesellschaft den Einzelnen mit Gesichtsverlust, sollte er sich der Scham­erwartung entziehen. Das Zeigen von Scham dient der Gesichtswahrung bzw. -herstellung. Gesellschaftlich verhängte Scham ist ein Innenaußen, ein Gefügigkeitsinstrument, das ohne den Anschein von Gewalt auskommt. Der Triumph dieser Art von Gesellschaft besteht darin, individuelle Schuld und Scham im Einzelnen vollständig zu entkoppeln und das Fehlen von Scham selbst zur Schuld zu erheben: die Art von individueller Geschmeidigkeit, die daraus entspringt, sucht ihresgleichen vergeblich.

Notizen für den schweigenden Leser

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