In einer Situation, in der die Kunstmuseen es geschafft haben, dass sich die Besucher ihren Schätzen nur mit Maske, i.e. dem in weiten Bevölkerungskreisen ›Maulkorb‹ genannten ›Mund-Nase-Schutz‹ zur Abwehr viraler Gefahren nähern dürfen, wäre es vielleicht an der Zeit, sich daran zu erinnern, dass ein unsichtbarer Maulkorb, genannt ›Urteilsabstinenz‹, seit langem die Ankaufpolitik der genannten Institutionen positiv begleitet. In den Abteilungen für zeitgenössische Kunst ist das spontan geäußerte Urteil, wie jeder, der sich häufiger in ihnen aufhält, weiß, schon vor Jahrzehnten dem vorsichtigen Glotzen gewichen, dem kriterienlosen Grimassieren und dem verbalen Wechselspiel von »Also ich find’s toll« und »Naja«. Jetzt endlich, siehe oben, kann man es sich ungestraft schenken: Stumm starren maskierte Kunstbeflissene auf das von ihren Steuergeldern erworbene Objektsammelsurium und fragen sich dabei, wieviel Normzeit für seine adäquate Erfassung wohl vorgesehen ist und ob man, alles in allem, gut in der Zeit liegt. Biologisch bedingt empfinden die ganz Jungen wie auch die Älteren diesen Normzwang weniger stark, weil sie ihr Lebensgefühl überall mit hinnehmen und auf jedem Schrottplatz auf ihre Kosten kämen, vorausgesetzt, das Ambiente machte genügend her und für Kaffee und Kuchen danach wäre gesorgt. Wie andernorts im gesellschaftlichen Leben trifft die subtile Nötigung zur Urteilsabstinenz jene Altersgruppen mit voller Wucht, deren Urteil allein schon deshalb zählen müsste, weil auf ihnen bekanntlich die Last der Arbeit und der Verantwortung für das Fortkommen aller liegt. Wenn es irgendwo ein nüchternes Urteil über die Kunstszene und ihre Versorgung mit öffentlichen Mitteln gäbe, dann müsste es bei diesen Menschen anzutreffen sein – und gerade sie schweigen, sofern sie nicht über Geschäftsmodelle und Finanzierungsmethoden reden. Einst von Adorno zu Banausen gestempelt, haben sie ein Einsehen und erklären ihr »Nicht zuständig!«, wann immer es um Fragen der ästhetischen Kultur geht; ansonsten geben sie sich anstellig. Dabei sollte das Internet es ihnen leicht machen, der Frage nachzugehen, ob es nicht irgendwo Kunst gibt, die es nicht in die staatlichen Museen schafft – nicht etwa auf Grund mangelnder Kunst, sondern auf Grund besagter Urteilsabstinenz, die selbstverständlich auch die Welt der Kuratoren und Direktoren fest im Griff hat. Paul Mersmann, dem die Welt eine Reihe exquisiter Werke verdankt, die nicht zu kennen sie aus besagtem Grund vorzieht, hat es einmal hübsch formuliert: Kein Papst und kein Doge hat die Kunst als ernst zu nehmenden Gegenstand einer Kultur bezweifelt. Das ist heute aber der Fall… Man hört in den politischen Gesprächen über Kunst eigentlich nie etwas. Ich meine, es interessiert Frau Merkel so wenig wie irgendjemand anderen … Künstler, ach Gott, gibt es im Grunde genommen nicht, das sind Spinner und die sind abseits der Realität und die Realität, die kennen wir. Die ist jeden Morgen im Fernsehen. Was ›Corona‹ wirklich an den Tag bringt, ist die vollendete Gleichgültigkeit des Gleichgültigen: So und nicht anders sieht es aus in der Welt der ›Kultur‹.