Freier Journalismus, wie Generationen ihn kannten, funktioniert nach dem einfachen Prinzip: Jeder Mensch, jede Institution hat sein / ihr schmutziges Geheimnis. Finde es und lass die Kasse klingeln. Medien, die diesen Pfad verlassen haben, besitzen im Umkehrschluss selber eines. Rohe Mitmenschen, die Sprache verflossener Diktaturen im Ohr, nennen sie ›gleichgeschaltet‹ und provozieren damit ein Getöse, wie man es aus eher traditionellen Gesellschaften kennt, wenn die sexuelle Unschuld der Tochter des Hauses in Zweifel gezogen wird. Es gibt sie also doch, die Ehre, diesen archaischen Kodex, der verfügt, was draußen, außerhalb der Mauern des Hauses und des Bundes, gesagt werden darf und was nicht, bei Strafe der Hinrichtung, zumindest in effigie, wie der lateinische Ausdruck für symbolische Auslöschung lautet. Genauso gibt es sie, Netflix zum Trotz, noch immer, die Liebhaber der europäischen Romanwelt von Cervantes bis Proust, in der ein Erzähler den Spuren des Gerüchts folgt, den geheimen Geschichten, die über die Protagonisten im Umlauf sind und die meisten von ihnen irgendwann, jeden auf seine Weise, zur Strecke bringen. Warum? Weil Gesellschaft so funktioniert.
Wie Gesellschaft funktioniert, erfährt der Betrachter zweiter Ordnung gegenwärtig nicht mehr aus den Studien einer mauloffen ihre Bedeutungslosigkeit meditierenden Sozialwissenschaft, sondern dort, wo das glatte Informationskontinuum der Medien abreißt und den Blick auf … nun ja, die anderen Medien nicht freigibt, sondern auf jede erdenkliche Weise zu vernebeln versucht, teils durch Schweigen, teils durch privatisierte Zensur, sprich Löschung missliebiger Inhalte, teils durch – siehe oben – Getöse, was in der Sache zwar keinen sonderlichen Unterschied macht, aber eine gewisse Feinsteuerung des sozialen Klimas erlaubt. Im Klartext: diese Gesellschaft geht ihren Alltagsgang, weil die archaische Technik des umflorten Blicks, deren Nichtanwendung allerlei exotische Varianten der Blutrache heraufbeschwört, sich der Aufklärungsinstrumente bemächtigt hat – übrigens nicht nur in den sogenannten Leit- und Folgemedien, sondern mehr und mehr auch im Spektrum der gesellschaftlich sensiblen Wissenschaften. Der Einzelne mag das für betrüblich halten. Aber als Einzelner verfügt er ohnehin über die schlechteren Karten, da Ehre nun einmal ein gruppenbezogenes, sprich kollektives Verhaltensmuster voraussetzt, dem die Freiheit des Individuums ein fortwährendes Ärgernis darstellt, das bei Gelegenheit beseitigt werden muss.
Zu den Sprüchen der Lateiner, die jahrtausendelang gern zitiert wurden, gehört der dem älteren Cato zugeschriebene Rat: rem tene verba sequentur. (›Behalte die Sache im Auge, die Worte werden folgen.‹) An ihn dürften sich auch die politischen Autoritäten des Westens, darunter die deutsche Kanzlerin, in ihren Neujahrsansprachen gehalten haben, diesen Blütenlesen des offenbar gerade noch Zumutbaren. Bekanntlich ist es Sache der Politik, Verhältnisse im Lande herzustellen, die den Vorstellungen ihrer Gestalter entsprechen. An einzelnen Formulierungen gemessen, scheint die Ausgrenzung und, sagen wir’s ruhig, nirgendwo intendierte Verfolgung Andersdenkender im Westen auf neue historische Kennmarken zuzustreben. Da werden, neben allerlei ›Leugnern‹ im ideologischen Kleinkrieg sowie ein paar versprengten Altliberalen, auch die Vertreter oppositioneller Parteien blass, falls sie nicht ohnehin im gleichen Boot sitzen. Wo die Ehre ihr furchtbares Haupt erhebt, pflegen die Rächer nicht weit zu sein – armselige Verführte eines Zeit- und Gruppengeistes, für den dort draußen das Böse umgeht, weil man im Herrenhaus die Schande, sich womöglich geirrt zu haben, einfach nicht ertragen kann.