Kulturkonservatismus ist eine andere Hausnummer. Man könnte sich die Sache leicht machen und dekretieren: Kulturkonservatismus ist alles, was nicht Kulturmarxismus ist – und läge damit sehr nahe bei kurrenten Auffassungen, die den Kulturmarxismus als die herrschende Ideologie dieser Tage betrachten und ablehnen. Wobei es nicht die Konservativen sind, die diesen manischen Dualismus in die Kultur – vor allem aber in die Gesellschaft – hineintragen. Es ist der linke Kampf gegen die ›Mitte der Gesellschaft‹, den angeblichen Hort ›rechter‹, soll heißen ultrarechter Gesinnungen, die darauf zielen, die erreichten Fortschritte der Gesellschaft, insbesondere im Bereich der Minderheitenrechte, mit einem Federstrich zunichte zu machen – was um jeden Preis verhindert werden muss. Dieses ›um jeden Preis‹ hat selbst einen Preis, einen nicht unbeträchtlichen, blickt man auf den Zustand der Gesellschaft, die durch den Manichäismus der ›herrschenden Kreise‹ buchstäblich zerrissen wird.

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Ist das so? Aus der Vogelperspektive betrachtet ergibt das alles nur einen armen Sinn, der sich nicht weit vom üblichen Hü und Hott mediengängiger öffentlicher Auseinandersetzungen entfernt. Kultur trägt, solange dem Ausdruck überhaupt ein vertretbarer Sinn innewohnt, auf beiden Schultern, der progressiven wie der konservativen, und sie besitzt eine Mitte genau an der Stelle, an der bei einem lebendigen Organismus der Kopf sitzt. In einer dynamischen Kultur vollzieht sich die Auseinandersetzung progressiver und konservativer, ›linker‹ und ›rechter‹ Elemente intrinsisch, soll heißen in den Ausstellungsräumen der Kunst ebenso wie in den Traktaten ihrer Vordenker. Nicht als ob die Geschichte nicht reich an Beispielen eliminatorischer Kulturen wäre, ›cancel cultures‹ nach gegenwärtigem Sprachgebrauch, aber diese Beispiele gelten gleichzeitig als Beispiele einer überwundenen Barbarei, in deren Selbstbeschreibung das Wort ›Kultur‹ höchst überflüssig daherkommt und meist in dem Moment fallengelassen wird, in dem man zur Sache kommt. Ein nicht geringer Teil der neuen Konservativen mahnt diese Integrationsleistung der Kultur an, nur um festzustellen, dass die Gegenseite Begriffen wie ›Integration‹ einen anderen, bei Licht betrachtet gegenteiligen Sinn gegeben hat. ›Integration‹ bedeutet dann eben nicht Integration der Bestände in das Denken des Aktuellen (et vice versa), sondern Integration des Anderen, das in seiner Andersheit nicht angetastet werden darf, jedenfalls solange nicht, bis die Bestände zerfallen sind und eine Art Tabula rasa für den Aufmarsch der Minderheitenkulturen erreicht ist, auf der dann der Kampf um die neuen Mehrheiten ausgetragen werden kann.

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Wie so oft ist die Kunst dem Rest der Kultur auf diesem Weg ein Stück voraus. Jedenfalls gilt das für Europa, das seine Kunst im vergangenen Jahrhundert teils hochmütig, teils der Not gehorchend an alle Regionen der Erde ausgeteilt hat, um feststellen zu müssen, dass eine kohärente Weiterentwicklung der Künste auf diese Weise nicht erreichbar ist. Der Transfer westlicher Kulturhoheit von den klassischen europäischen Stätten auf den amerikanischen Doppelkontinent hat dort ein auf ein, zwei Schübe beschränktes Epigonentum hervorgerufen, der mit weit gewichtigerer Miene ein genuin amerikanisches, aus diversen Werbe-, Psycho- und Ethno-Elementen gemischtes Etwas gegenübertrat, welches seitdem die Kulturetats der ›zivilisierten Staatenwelt‹ plündert. Es so zu beschreiben setzt allerdings eine rigorose Abkehr vom Enthusiasmus voraus, mit dem zwar das Gros der Künstler nichts anfangen kann, den sie aber, bei Strafe der Verachtung, wie eh und je beim kommentierenden und zahlenden Publikum voraussetzen. Die nüchterne Erfahrung der heute abtretenden Generation lautet: Die Kunst ist tot. Das mag, nach dem ein paar Runden früher diagnostizierten Tod Gottes, kein großes Ereignis sein, aber es könnte einschneidend genug sein, um den allseits inszenierten Kulturzauber ein wenig herunterzudrehen. Wenn die Politik in den westlichen Hauptstädten Europas synchron verkündet, es existiere keine französische, deutsche, englische etc. Kultur, Kultur sei ›divers‹, dann empört sich dagegen mit einem gewissen Recht der Kulturkonservatismus, aber er selbst bedient sich derselben Denkfigur, wenn er die ›verheerenden Zustände‹ zu beschreiben versucht, welche der praktizierte Kulturmarxismus realiter herbeigeführt habe.

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