Das Differente

Ist es wichtig?
Ja, sehr.
Zunächst: Beachte den Faktor Zeit.
Das Differente ist eine Funktion der Bewegung, vergleichbar der Bugwelle eines Schiffes. Beiseite geworfen, nicht verworfen. Es bleibt also erhalten, jedenfalls im Weltganzen, genauer: dir bleibt es erhalten. Du musst dich nicht umsehen, um zu erkennen: es ist da. Es säumt deinen Tag. Ein Tag ohne Saum wäre kein Tag. Er wäre etwas anderes (was auch immer).
Wohlgemerkt: hier handelt es sich nicht um die abstrakte Möglichkeit der Abweichung, sondern um den Begleiter im Bewusstsein, der dir unentwegt zuflüstert, auch anders zu können, anders zu sein. 
Soso, der Begleiter. Nennst du ihn wirklich Begleiter? Natürlich bleibt dir das unbenommen. Es ist nur so… Gibt es eine Mitgegenwart des Ungelebten? Demnach wäre das Ungelebte … dein Begleiter? Besser gesagt: Das Leben des Ungelebten? Welches Leben eignet dem Ungelebten? 
Du stellst den Gedanken scharf und er verschwindet. 
Du nimmst ihm die Schärfe und er tritt hervor. 
Du nimmst ihm die Schärfe … wie geht das? Wie soll das gehen? 

Naivenherrschaft

Verblüffend an der Naivität ist, dass sie sich den Definitionen entzieht. Sieh alle Definitionen durch, derer du habhaft wirst, und du wirst sie … naiv finden. Offenbar ist Naivität so unverwechselbar, dass man sie mit allem und jedem vermengen kann und dennoch auf Anhieb weiß: Das ist sie. Im Naivsein gibt es kein Mehr oder Weniger. Deshalb hält einer seine Geschäftspartner gern für ›ein bisschen‹ naiv; er weiß, das ist Quatsch, aber es gibt ihm das Gefühl einer winzigen Überlegenheit: »Der Kauf gilt!« Mit wahrhaft Naiven macht man keine Geschäfte. Man plündert sie oder man lässt sie laufen. Und selbst der gewiefte Plünderer zieht mit dem seltsamen Gefühl in der Magengrube davon, nicht zu wissen, ob nicht am Ende er der Gelackmeierte ist. Naivität, man mag von ihr halten, was man will, schafft es fast immer, siegreich aus einer Sache herauszukommen. Naive, die ein Land regieren, liefern es den Plünderern aus und treten in dem Bewusstsein ab, sie hätten die Welt ein bisschen besser gemacht. Sie sind, wenn man so will, praktisch unbelangbar, moralisch nicht satisfaktionsfähig und gegen intellektuelle Zumutungen immun. Nur dumm sind sie nicht, das zu glauben wäre zu einfach

Netzpropheten

Das Internet hat sich eine Spezies gezogen, die man am besten  mit dem Ausdruck ›Netzpropheten‹ belegt. Ihre Besonderheit: Sie kennen sich in der Zukunft deutlich besser aus als in der Gegenwart. Vermutlich würden die Betroffenen (oder ›Befallenen‹?) vehement widersprechen, aber die Fakten sprechen nun einmal gegen sie. Welche Fakten? Wer jeden Wirklichkeitskrümel, den der Tag herbeischafft, munter in die Pfanne des immer gleichen Deutungsmusters wirft, um ihn dort zu verbraten, der ist entweder ein monomanischer Großdenker oder ein Wiederholungstäter, ebenso blind für die Nuancen des aktuellen Geschehens wie für das Große und Ganze, das eben nur eine Idee ist, vorzugsweise der Komplexität. Ein richtiger Netzprophet, man ahnt es, tanzt auf beiden Hochzeiten. Niemand kann ihm das Wasser reichen, das ihm, argumentationstechnisch gesehen, längst bis zum Hals steht.

Crash

Was die Zukunft, dieser Tummelplatz der Wortfetischisten, für alle bereit hält, unterliegt keinem Zweifel: Es ist der Crash, dieses einzigartige Gebilde aus kollabierenden Aktienkursen und Fluchtbewegungen der Ärmsten unter den Reichen, vorzugsweise in die Karibik, wo ein Leben nach der Natur noch möglich erscheint. Die allesbewegende Frage ist also: Wie geht es weiter nach dem Crash? Alles aus? Tausend Jahre Sklaverei? Oder ein Zeitalter des Lichts, in dem jedermann (selbstredend auch jede Frau, die Anspruch auf ihr Geschlecht erhebt) reich, getröstet und ausbalanciert bis in die letzte Körperzelle sich von den Strapazen der bisherigen Menschheitsgeschichte (die, Marxisten wissen es, nur als Vorgeschichte gilt) erholt? Man weiß es nicht, es sei denn, man ist Netzprophet und bewirbt neben dem eigenen Kanal praktischerweise sein neuestes Sachbuch, in dem alles genau beschrieben wird. 

Weltkrieg

Was aber (es sind die pfiffigen Fragen, die mit dieser Floskel beginnen) – was aber, wenn die Zukunft bereits begonnen hätte? Wenn sie unerkannt unter uns weilte, um den Kommentator bittend, der sie vor aller Augen enthüllt? Das wäre immerhin möglich. In jeder Gegenwart ist eine Zukunft angelegt und wer Augen hat zu sehen, dazu einen scharfen Verstand, dem erschließt sich mancherlei. Hier jedoch geht es darum, den Leuten die Angst vor der Zukunft zu nehmen, die man verbreitet: »Wovor fürchtet ihr euch? Ist nicht längst alles eingetroffen, vor dessen Ankunft ihr angstvoll die Augen verschließt?« Unter uns: Ist es nicht entsetzlich langweilig, Jahrzehnt um Jahrzehnt vor dem Dritten Weltkrieg zu warnen? Wirkt die Feststellung nicht weit prickelnder, dass ›wir‹ uns längst mittendrin befinden? Überdies versetzt sie den Gegenwartspropheten in die exklusive Lage, in beide Richtungen auszuteilen: Einerseits ist alles viel schlimmer als gedacht, andererseits nicht so schlimm wie das, wovor wir uns fürchten. Er ist ein sicherer Führer der Verwirrten, der Gegenwartsnetzprophet, schließlich hat er die Verwirrung selber herbeigeführt und weiß, wovon er redet.