Das Rechtsbewusstsein siegt immer
Der Spruch verdient es, unter der Lupe betrachtet zu werden. Zunächst: Was soll das heißen? Etwa: Das Recht siegt immer? Das wäre leicht widerlegbar. Heißt es: Das Rechtsbewusstsein siegt immer im Täter? Das könnte bedeuten, dass irgendwann jeden Täter die Reue einholt. Dazu müsste man wissen, was ›Reue‹ bedeutet. Genügt ein Gefühl des Unwohlseins oder des leisen Bedauerns? Oder ist eine radikale Umkehr im Gemüt erfordert, ein Wille zur Buße und zu einem geläuterten Leben? Wie steht es um Wiedergutmachung, soweit sie überhaupt möglich ist? Aber die radikale Umkehr ist ein religiöser Prozess, setzt also das Vorhandensein von Religion voraus. Welches religiöse Minimum muss da vorausgesetzt werden? Gibt es Menschen, denen es abgeht? Oder ist es, hurribile dictu, Teil unserer menschlichen Ausstattung?
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›Karrierekriminalität‹: eine Wortprägung, die es in sich hat. Dort, wo sie vorkommt, ein Paradebeispiel öffentlichen Handelns unter den Bedingungen der Lüge. Der ›Karriereposten‹ markiert den Punkt äußerster Verquickung privater und öffentlicher Interessen. Niemand handelt ungestraft im Interesse aller. Der Satz besitzt ›so oder so‹ seine Gültigkeit. Das gibt den Figuren, auf die er zutrifft, den zwittrigen Glanz. Karrieristen (männlich wie weiblich) sind nicht zwangsläufig a-religiös. Im Gegenteil: Karrierismus setzt eine Art von Wertegläubigkeit voraus, ähnlich jener unsichtbaren Religion, die aus dem Hintergrund die Überzeugungen noch der härtesten Atheisten steuert. In diesem Sinn kann man sagen, sie teilen die Werte aller. Sie repräsentieren den Zynismus der Wirklichkeit, gekleidet in den Satz aller Postenjäger: ›Wenn nicht ich, dann ein anderer.‹
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In solchen Fällen blockiert das Amt (die ›übernommene‹ Aufgabe) das Rechtsbewusstsein im Namen der Schuld: »Vielleicht nehme ich durch mein Handeln Schuld auf mich. Aber ich handle nicht aus niedrigen Beweggründen, sondern weil es die Sache erfordert. Ich handle moralisch, indem ich Schuld auf mich nehme.« Das ist der Fall der revolutionären Moral. Aber er beschreibt ebenso gut, mit wenigen Abstrichen, den Alltag der Macht. Entfällt mit dem Amt die Blockade und das Memoirenschreiben beginnt, trennt sich die Spreu vom Weizen. Die einen heucheln weiter, die anderen ›geben Einblicke‹ in das Getriebe der Macht, in dem sie Rädchen sein durften. Die private Beichte mutiert zum Spiegel der Welt: Schuft ist, wer nichts zu beichten hat. Der Beichtende fühlt sich erleichtert, er ist froh, ›es‹ loszuwerden, indem er darüber redet, und das ist schließlich der Sinn aller Beichte. Aber ist es überhaupt möglich, ›es‹ loszuwerden?
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Wer sich für weitere Aufgaben zur Verfügung hält, der schweigt weiter. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Person gehört zum Pool der verlässlichen Kräfte, auf die man bei Bedarf zurückgreifen kann. Verlässlichkeit ist eine soziale Tugend, gebrochen durch das Eigeninteresse der Gruppe, die ihren Vorteil im Blick hat. An der Spitze der Pyramide ergibt sich daraus ein Paradox: Es existiert keine übergeordnete Instanz mehr, die das Eigeninteresse der Gruppen, welche die Allgemeinheit steuern, einschränken könnte. Genauer: jede weitere Instanz, gehalten gegen die Träger der wirklichen Macht und damit der Entscheidungspotenz der Gesellschaft, ist abstrakt. Es sind die Verlässlichen, heißt das, auf die am wenigsten Verlass ist, jedenfalls aus der Sicht der Unterprivilegierten, soll heißen, der 99 Prozent. Dass hier ein Thema liegt, ist nichts Neues. Neu ist nur, dass es den Händen der Memoiren- und Traktateschreiber entgleiten konnte. Dafür zeichnet in der Tat ›das Netz‹, das heißt, der technische Fortschritt verantwortlich.
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Weiter im Text. Unter den ›Stimmen‹ im Netz befindet sich auch die des externalisierten Gewissens, erkennbar daran, dass es ihr gelingt, die Mächtigen zu prima vista kindischen, in einem tieferen Sinn verräterischen Reaktionen herauszufordern: Getroffene Hunde bellen. Was kann den Gewissenlosen treffen? Als geeigneter Kandidat erscheint wie so oft die Angst vor Reputationsverlust, also schwindendem Marktwert, die zu fatalen Reaktionen tendiert. Auch sie wäre also eine Spielart des Rechtsbewusstseins, wenngleich eine, bei der das Wesentliche fehlt, der Wille zur Korrektur. Die Remedur der Schweiger ist das Zum-Schweigen-Bringen, sei es durch Geld, sei es durch die Anrufung der Gerichte, sei es durch weit Dubioseres. Fatal bloß: Das Netz lässt sich nicht zum Schweigen bringen. Es lässt sich nur abschalten. Da liegt die tiefste Angst aller Netzbewohner, der die Angst der Mächtigen vor der ›Masse‹ die Waage hält.
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Natürlich sind die (vom zaristischen Geheimdienst fabrizierten) ›Protokolle der Weisen von Zion‹ das Urbild aller ›Verschwörungstheorie‹, genauer, des kurrenten Vorwurfs, ›Verschwörungstheorien zu verbreiten‹: gedeckelt durch das strengste Tabu der Gesellschaft, aber gerade dadurch eine stete Versuchung für Tabubrecher. Wirf einen Stein ins Wasser und warte darauf, dass die entstehende Welle sich am Ufer (oder einem beliebigen Gegenstand) bricht –: das ist die Absicht hinter diesen stereotypen, endlos wiederholten, in vielen Fällen einfach sinnlos erscheinenden Vorwürfen. Irgendjemand wird kommen und die scheinbar naive Frage stellen: »Warum nicht? Warum eigentlich nicht?« Das falsche Tabu übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf schwächere Geister aus. Weshalb? Vielleicht, weil sich damit eine Art öffentlicher Sinnstiftung verbindet, die stärker ist als alles, was den Betroffenen selbst zur Sache einfiele. Sie müssen nur die Vorzeichen von Minus auf Plus stellen und … die falsche Erde hat sie wieder.