Nachtbuch. Notizen für den schweigenden Leser

Nicht vergessen: In Girards ›Sündenbockmechanismus‹ spukt, wie in so manchem in den sechziger und siebziger Jahren aus Frankreich eingewanderten und hierzulande kanonisierten Text, l’homme machine. ›Prozess‹ wäre die angemessenere Vokabel. ›Mechanismus‹ trifft es dort, wo zwischen menschliches und tierisches Verhalten kaum ein Blatt passt – soll heißen, die Schrift verändert das meiste, und sei es die Schrift an der Wand, das »Mene, Mene, Tekel, Upharsin«, denn wo gezählt und gewogen wird, da wird auch geteilt oder differenziert. Ein – temporär – blockiertes Bewusstsein funktioniert anders als undifferenzierte Bewusstheit. Wenn Girard das versöhnende Opfer als Ur-Handlung an den Beginn aller Kultur rückt, dann geht er in gewisser Weise in die Falle, die er beschreibt. Er will eine Art ›Urknall‹ des Bewusstsein, den Punkt, an dem sich der Mensch von seinen Primaten-Geschwistern löst, um ein bittersüßes Spiel namens ›Kultur‹ zu beginnen, und markiert die Sündenbock-Geschichte mit dem großen ›M‹, mit dem die Jagd beginnt. Der Sündenbock wäre demnach der Unschuldig-Schuldige im Prozess der Zivilisation, und er gewinnt immer – so oder so. Das ist geschmacklos.

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Wie viele – um das geläufigste Beispiel zu nehmen – verhinderte Lynchmorde kommen auf einen ausgeführten? Man weiß es nicht. Man kann es nicht wissen, man will es nicht wissen, weil es die schöne Empörung über die ›Barbarei‹ stört. Doch diese Empörung, die nicht gestört werden will, macht sich selbst höchst verdächtig. Betrachte ›Gesellschaft‹ wie ein Vexierbild, das dem Betrachter abwechselnd einen Fischschwarm und einen Pulk auffliegender Vögel zeigt: Der Fischschwarm entspräche dem dichten Gewebe aus Verfolgungskonstellationen, der Vogelhaufen den Befreiungsakten, in denen das Bewusstsein sich von der dumpfen Opferfolie löst und nach anderen Lösungen strebt – messend, wägend, teilend. Was da gemessen, gewogen, geteilt wird, ist die Schuld selbst, die erst dadurch zur wirklichen Schuld wird, dass sie eine humane Dimension hinzugewinnt. Nicht umsonst gilt das Gebaren der Meute als un-menschlich.

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Welchem Eindruck möchte man folgen? Das liegt an der Disposition des Betrachters. Das Glas ist halb voll und halb leer. Die Wahrheit ist, dass man nicht gefragt wird. Das Vexierbild narrt den Betrachter. Was eben fest – und sicher – erschien, entgleitet dem forschenden Blick und macht dem soeben noch Ausgeschlossenen Platz. Wer ›Gesellschaft‹ beschreibt, ohne an diesen Punkt zu gelangen, der hat noch gar nicht gesehen. Er beteiligt sich aber aktiv am Prozess der Dehumanisierung. Sein sehendes Nichtsehen fällt ins Verfolgungsmuster, an dessen Aufdeckung ihm so viel liegt. Das zuzugeben fällt schwer. In gewisser Weise ist es das Schwerste überhaupt, weil es am Begriff der Schuld rüttelt. Doch nicht alles, woran gerüttelt wird, fällt in sich zusammen. Es darf gerüttelt werden – ohne das keine Differenzierung, ohne Differenzierung kein Humanum, ohne Humanum kein Sündenbock: So schließt sich der Kreis. Aber er ist nicht perfekt.

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Also ›Prozess‹. Ein Prozedere, das von anderen durchkreuzt wird, das ihnen erliegt oder durch sie ein Momentum gewinnt, das es im Reinverhalten niemals erreichen könnte: Beides ist denkbar. Für beides gibt es Beispiele. Das markierende ›M‹, durch alle Medien gejagt, die sich dafür hergeben, ist eine andere Größe als die hingeflüsterte Denunziation im privaten Zirkel. Beide sorgen dafür, dass das Schreckliche seinen Lauf nimmt, falls nichts Unerwartetes dazwischentritt, aber die Mechanismen – hier wäre das Wort an seinem Platz – sind andere. Und nicht nur sie. Die ganze Art, wie sich Menschen beteiligen, wie sie in den Vorgang involviert sind, ist eine andere. Dennoch läuft hier wie dort der gleiche Sündenbockprozess ab – unendlich variabel, unendlich fintenreich, offen im Blick auf das Ende, das doch immer im Zeichen des Opfers steht. Unbeschädigt geht niemand aus der Sache hervor. Auch der strahlende Sieger nicht: sein Strahlen verdankt sich den dunklen Flecken, die es überdecken soll. Der unbeschädigte Mensch ist ›das Tier, das es nicht gibt‹.

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Was daran ist ›Kultur‹? Das ist eine nicht-triviale Frage. Was Menschen ›Blut lecken‹ lässt, gerade das soll Kultur sein? Die Meute wäre der gar nicht so heimliche, der eigentliche Träger der Kultur? Man muss das Befremden ausreizen, das diese Vorstellung auslöst. Über die Affinität von Kultur und Barbarei ist viel geschrieben worden. Wenn Kultur auf Mimesis beruht, dann ist diese die auffälligste von allen. Theater, Film, Spiele: Immer dreht sich das Geschehen, wie Girard meisterhaft zeigen konnte, um irgendeine Form des ›Opfers‹. Wo es fehlt, erlahmt das Interesse und die Leute gehen unbefriedigt nach Hause. Dennoch: Kultur ist anders. Kultur ist Katharsis: den Albtraum nachleben, um ihn abzuschütteln. Die Frage ist, ob das gelingt. Wenn der Albtraum die Wirklichkeit ist, dann bedarf es stärkerer Mittel als eines Videoabends, um ihn zu bannen. Es bedarf des Opfers, um das Opfer zu besiegen. Das ist der Hauptgedanke hinter dem Ritus, wenn man Girard Glauben schenken will.

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Apropos Glauben schenken: Es muss nicht gleich das sacrificium intellectus sein, aber ein Opfer ist stets dabei. Glauben schenkt, wer auf anderem Wege nicht weiterkommt, und sei es aus Geistesträgheit oder Verblendung. Wer Glauben schenkt, geht über das hypothetische Denken hinaus: Er nimmt das, was eine Hypothese sein könnte, für bare Münze und gibt dafür etwas her: ein Stück Verstand, wie man sagt, aber diese Rede ist spröde. Bildlich gesprochen gibt man den festen Stand auf, man begibt sich auf eine Rutschbahn, neugierig, wohin sie führt. Auch das ist menschlich, es erinnert an die Ausfahrten eines Iason oder eines Kolumbus auf eine Sage hin, ein Gerede, wenn man so will, dessen Zeit gekommen ist und nun auf die Probe gestellt wird. Es ist eine Gebärde der Kultur, sie wirkt radikal anders als der fatale Sündenbock, und doch … es knistert unterschwellig zwischen beiden Modellen, bloß dass der Ausfahrende sich selbst preisgibt: Er stellt sich zur Verfügung. An seiner Stelle könnte, wie im Fall des Sündenbocks, auch ein anderer stehen. Es ist beliebig und es würde keinen Unterschied machen.

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Schicksal/Scheusal. Der Ausfahrende gibt sich ein Schicksal – kehrt er unverrichteter Dinge zurück, erntet er Geringschätzung, bestenfalls Gelächter. Ungefährlich ist das nicht, das aufgeheftete ›M‹ ist niemals weit. Auch Misserfolg schweißt Menschen zur Gemeinschaft zusammen. Die Gemeinschaft der Enttäuschten kann leicht Züge annehmen, die an den Mob erinnern, der sein Opfer durch die Straßen hetzt. In der Regel begnügt sich die Gesellschaft mit Andeutungen und die Sache verläuft sich wieder, aber sicher ist das nicht. Auch Wagemut qualifiziert zum Sündenbock. Wer sich hervortut und Misserfolg erntet, der wird, wie man sagt, am Misserfolg gemessen, aber diese Messung verliert leicht jedes Maß. Die Gesellschaft vergibt keinen Misserfolg, jedenfalls dann nicht, wenn im Erfolgsfall sie den Gewinn eingestrichen hätte. Die Verrechnung als Schuld liegt da immer nahe, vielleicht auch mehr. Es gibt viele Weisen, Menschen zu zeichnen.

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Auch das ›Opfer des Intellekts‹ ist Opfer. Dass einer sich freiwillig seines Intellekts entäußert, setzt einen Prozess voraus, in dem die Person als Verfolgte und Verfolger zugleich agiert. Die Übergänge sind fließend, so wie die Meute das Jagdopfer instantan wechseln kann, aus grundloser Notwendigkeit sozusagen, denn irgendeine Not, die es zu wenden gilt, ist immer im Spiel, sie ist Grund, gelegentlich Anlass zur Hatz. Der Knoten, der gelöst werden muss und nicht gelöst werden kann, wird zur Mutter der Erregung. Er führt geradewegs zum Gezeichneten als dem prädestinierten Verfolgungsopfer. Der Verfolgte ist zugleich irgendjemand (›gegriffen‹) und einer, den man bereits ›auf dem Schirm‹ hat. Das muss kein Verdächtiger sein. Es kann auch jemand sein, der enttäuscht hat oder in der Situation enttäuscht, nachdem man sich viel von ihm versprochen hat. Die Meute kann ihn sich aus den Regionen der Macht wie der Ohnmacht holen. Das alles macht keinen Unterschied. Ein Minister, der gerade noch das Blaue vom Himmel versprach und in eine Rezession steuert, ist nicht mehr und nicht weniger als das ideale Opfer.