Es gibt nur einen Weg, das Leben zu negieren: den Freitod. Die frei erwogene, ohne Not vollzogene Eigen-Tötung ist möglich, aber vermutlich sehr selten. Sie ist contra naturam. Leben hängt am Leben. Leben ist Selbsterhaltung. Alles kommt auf dieses Selbst an, das sich da erhält. Es ist so sehr mit dem Eigensein verbacken, dem inneren Leben, dass der Mensch es bei außermenschlichem Leben nur erdeuten, aber nicht erfragen kann. Kein Tier nickt, wenn man es fragt, ob es am Leben hängt. Man sieht es vor dem Verfolger fliehen, aber das tut auch der zum Selbstmord Entschlossene. Und im Bereich primitiver Lebensformen wäre die Frage absurd. Der Mensch ist allein in der gedeuteten Welt, er steht auch allein vor der Frage: Leben oder Tod.

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Jemand flieht vor dem Tod, jemand kämpft um sein Leben: Das sind animalische Reflexe. Wer einen Baum fällt, hat kein Tötungsbewusstsein. Dabei zeigt auch der Baum Verhalten. Er verhält sich lebenskonform (und erdrückt fremdes Leben). Was ist der Unterschied zwischen lebenskonform und lebenserhaltend? ›Lebenskonform‹ meint: Dieses Wesen verhält sich, wie man es von Leben erwartet. ›Lebenserhaltend‹ meint: Dieses Wesen trifft Maßnahmen, die sein Leben erhalten sollen. Auch reflexhafte Maßnahmen sind ›Maßnahmen‹: Jemand (etwas) nimmt Maß an der Gefahr und begegnet ihr ›Auge in Auge‹. Ganz sicher weiß das jeder nur von sich selbst. Aber die teleologische Deutung der Natur ist allgegenwärtig. Ohne sie wäre die Natur für den Menschen tot. Andererseits ist das nicht ›bloße Interpretation‹. Anders gesprochen: Auch Tiere ›verstehen‹ einander teleologisch. Das gehört zum Umfang ihrer Reflexe. Reflexe, heißt das, und Reflexion besitzen einen gemeinsamen (vitalen) Kern.

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Dieses Sollen ist ein Müssen. Der Mensch, der sich ihm entzieht, geht an die Grenze seiner Freiheit: die Grenze der Lebensverneinung. Aber überschreitet er sie auch? Das ist die Frage. Es gibt ein Leben im Tode: Diese Überzeugung, diese Gewissheit eint die Menschheit. Ohne sie wäre die Preisgabe des eigenen Lebens sinnlos. Die Selbsttötung (oder Selbstpreisgabe) als sinnloser Akt ist eine dürre Konstruktion, eine Ideologie von Lebenden für Lebende. Wer opfert, wünscht etwas dafür zu erhalten. Wer sein Leben opfert, verspricht sich viel davon – und sei es ein Ende der Qual. Auch wer das Leben eines anderen opfert, verspricht sich etwas davon – und sei es das Handgeld des Mörders. Gibt es ein Töten außerhalb des Opfers? Das ist die Frage. Wo es passiert, da spricht der Mensch schaudernd von der Natur (oder den Göttern). Er personifiziert die Natur, um auch dem Sinn-losen eines Erdbebens, einer Feuersbrunst Sinn zu geben: den Sinn des Opfers.

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Wie steht es um die Tötung im Rausch, bei getrübtem Bewusstsein, aus ›nackter‹ Angst? Kann Tötung ohne Abwägung Opfer sein? Der Mensch geht an die Grenze des Menschlichen: Wie un-menschlich ist das? Wie menschlich ist das Unmenschliche? Die Frage beschäftigt Gerichte, aber sie ist sensu stricto nicht zu beantworten. Der Mensch geht überall über sich hinaus, doch er gewinnt nicht dabei. Das Unmenschliche bleibt das Unmenschliche, so wie die unbeabsichtigte, die nicht-intentionale Tötung un-menschlich bleibt, auch wenn etwas Allzumenschliches, ein Fehler die Ursache war. Der Mensch entledigt sich seines Menschseins – das ist eine Phrase und nichts als die Wahrheit. Er lässt sich gehen … aber wer geht da? Ein Nichts? Ein Unmensch? Ein ›Armseliger‹? Ein ›Unglücklicher‹? Der Mensch ist fehlerhaft (›fehlend‹) von Natur. Das geht in moralische Wertungen über, auch wenn es zunächst (und technisch) nichts damit zu tun hat. Die Moral ist nirgendwo fernzuhalten. Die Moral kontrolliert das Dasein. Sie ist das Ferment des Menschlichen. Dabei trägt sie selbst unmenschliche Züge.

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Leben erdrückt Leben. Das ist Teil des vitalen Kreislaufes. Wo immer Leben möglich ist, beginnt der Kampf um die knappen Ressourcen. Im Paradies sind Adam und Eva allein (und die Tierwelt, so können wir annehmen, ist peinlich geordnet) – so sieht es aus, das an den Anfang der Mühen und Plagen gesetzte, unerreichbare Ideal. Alle anderen Mythen handeln von den Menschen und dem, was sie einander antun. Die ›elementare‹ Beißhemmung, das Tötungsverbot gegenüber Vertretern der eigenen Gattung, sie komplizieren Dinge, die ohnehin kompliziert genug sind. Wer sie überschreitet, der vergeht sich nicht bloß am Gesetz, er vergeht sich an der Gattung. Das Kapitalverbrechen ist biologisch fundiert: Hier beginnt der Bezirk dessen, was als ›böse‹ bezeichnet wird. In diesem Sinn kann auch ein Tier ›böse‹ genannt werden. Niemals werden ›die Menschen‹ den Aufgeklärten glauben, die verbreiten, ein Tier, das seinen Herrn, genannt ›der Mensch‹, totbeißt, könne nichts dafür und deshalb stehe es außerhalb dieser Kategorienwelt. Gerade nicht, lautet der Einwurf, gerade nicht! Wer das Böse in der Natur leugnet, der leugnet auch das Böse im Menschen. Er leugnet es vielleicht nicht explizit, aber er macht daraus ein metaphysisches Ungetüm mit zwei Hörnern.

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Die Moosbrugger dieser Welt, sie alle können ›nichts dafür‹. Aber Schuld fragt nicht nach Können. Wer sich schuldig fühlt, weiß ein Lied davon zu singen. Es sind andere, die ihm einflüstern, er könne nichts dafür. Es sind andere, die seine Schuld feststellen und damit das Schuldgefühl ein weiteres Mal im Kern verfehlen. Schuld ist Unruhe und Unruhe verwandelt sich in Schuld. Es muss nicht unbedingt die Bestie Mensch sein, die sich da meldet, aber Unruhe ist per se ein psychophysisches Phänomen. Die Hölle ist innen. Das Böse spielt zwischen Tier und Mensch. Dieses Spiel ist nicht einfach, es ist im Wortsinn verflixt. Nichts vermittelt dem Bewusstsein so sehr, dass es von außen bedrängt und manipuliert wird, wie die Schuld. Wer bekennt, er habe ›aus freien Stücken‹ Schuld auf sich geladen, der will vielleicht einen gordischen Knoten durchschlagen, aber er macht sich ein weiteres Mal schuldig, weil er im Drang, mit sich oder seiner Umwelt ins Reine zu kommen, sein Bewusstsein gewaltsam fehlinterpretiert. Gewaltsam deshalb, weil er die Stimme des Gewissen übertönt (das Gewisse / das Gewissen). Was wäre der Mensch ohne seine Gewissheiten? Nicht lebensfähig vermutlich.

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Das alles ist nicht anthropologisch festgeschrieben. Es ist fluide, soll heißen, in seinen Äußerungsformen unendlich wandlungsfähig und durch Menschheitsgeschichte geformt. Man braucht kein ›Menschenbild‹ von der Stange, um diesen Fragen näherzutreten. Die semantischen Eroberungen im Feld zwischen Tier, Mensch und Gott sind so mannigfaltig wie die Kulturen selbst und lassen sich nicht auf einen gemeinsamen ›Kern‹ zurückführen, den sie alle umspielen oder meinen. Es sind Deutungen des Menschseins, das sich jeweils anders entwirft. Deshalb ist die angemessene Weise, sich ihnen zu nähern, noch immer die phänomenologische. Zwischen (anonymem) Sprachgebrauch und Bewusstsein spielt das Phänomen, das ›größer ist als alle Vernunft‹, aber eben auch kleiner, weshalb der Vernunft, die sich nicht zu bücken versteht, so manches entgeht. Aber wer spricht von Vernunft, wenn es um die heiligsten Überzeugungen geht.