Einmaul, das muss die Scheltsucht ihm lassen, besitzt Charakter. Im Moment, er könnte nicht angeben, warum, beschäftigt ihn das kulturelle Gedächtnis. Es beschäftigt ihn über die Maßen, nachdem er den Ausdruck lange abgelehnt hat. Im Yagir steht hinter jedem Markenbegriff ein Wanderprediger, der ihn anpreist. Lange Zeit fiel Einmaul die Aufgabe zu, diesen Personenkreis auf die Couch zu locken und in ein Gespräch über Gott und die Welt zu verwickeln, in dem er vor großem Publikum seine Ware anzupreisen Gelegenheit fand. Diese Frau hier … nein, sie ist jetzt nicht die Frau seiner Träume, nichtsdestotrotz hat er sich letzte Nacht vor ihr gefürchtet, sie ist mindestens so lange wie er im Geschäft und mit allen Wassern gewaschen, eine Marketenderin der verstatteten Rede, um keine Redensart verlegen und stets zu Behauptungen aufgelegt, die sich im nachhinein rapide verflüchtigen, aber in der Situation eine nicht zu unterschätzende Suggestivkraft entfalten. Nach ihrem Auftritt wird Schluss sein, aus und vorbei, Jüngere werden mit verwandten Programmen auf Sendung gehen, aber für ihn ist das hier ein Einschnitt, eine Wegmarke auf dem Pfad der Erleuchtung, eine Schwelle zwischen zwei Aufgaben, die mit Würde passiert sein will, zugleich ein sperriges Stück Arbeit, denn, ehrlich gesagt, für ihn umschließt die Kultur das Gedächtnis, und die Vorstellung, es ginge auch andersherum oder das Gedächtnis würde aus der Kultur herausragen wie Witwe Boltes Hühnerklein aus den vorlauten Mundwerken von Max und Moritz, stößt in seiner Vorstellungswelt auf erheblichen Widerstand. Die Kultur macht den Menschen und damit auch sein Gedächtnis. Wäre es anders, er besäße zwar noch die Merkfähigkeit eines Wiesels, aber schon die des kulturaffinen Hundes wäre so nicht zu begreifen. Mit derlei Sprüchen ergötzt Einmaul sein Publikum. Er übermittelt ihm damit, wie er sagt, die Botschaft der Philosophie, und pflichtschuldigst staunt das Publikum. Frau M. hingegen – auch hier das fatale ›M‹ – gilt jeder Speicher als Gedächtnis. Ist das Unfug? Ist das sinnvoll? Ist das angemessen? Wer im Gletschereis bohrt, bohrt im Gedächtnis des Planeten. Wer ein Teleskop auf den Weltraum richtet, linst ins Gedächtnis des Universums. Ein echter Späher. Wer eine Bibliothek aufsucht, der betritt das kulturelle Gedächtnis, jedenfalls den bequemeren Teil davon, wenn man von der häuslichen Bücherwand absieht. Einmaul reicht seine Bücherwand dicke. Multum non multa. Unwillkürlich zieht er die Hacken hoch, der Boden hier bleibt selbst im Sommer kalt. Wer in der Nase bohrt, welches Gedächtnis bohrt der an? Das des Betrachters, stupid! Der Betrachter ist die Konserve der Kultur. Er enthält sie, aber sie geht ihn nichts an. Der Popel in deiner Nase ist der Beweis. Wohin entführt dich das? Während du in der Nase bohrst, sind bereits fünfzig neue Titel erschienen, die deine Recherche deklassieren. Konservativ gezählt. Das ist die Lage. So wird das nichts mit der Kultur.

 

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