All die Leben, die ich gelebt habe.
All die Tode, die ich gestorben bin.
Vor Angst. Vor Entsetzen.
Aus Furcht, mich zu verlieren.
Aus Lust, mich zu verlieren. An den Verlust.
Ich saß am Strand von Pisa, blickte auf den Strand und aufs Meer, das nach wenigen Metern in einem ungeheuren Sommernebel verschwand, rechterhand ragte ein verwittertes netzebewehrtes Schöpfrad über das Wasser, ausgerenkt, mit geborstenem Zapfen, und hörte mir die Geschichte eines DDR-Wissenschaftlers an, der im Süden noch einmal eine Anstellung gefunden hatte, bevor ihn ein plötzlicher Tod auf dem Operationstisch ereilte. Ich hatte ihn etwas gekannt oder zu kennen geglaubt, doch als ich seine um etliche Jahre jüngere Frau auf der Rückfahrt in die Stadt fragte, ob man ihn in Deutschland zu Recht oder Unrecht verdächtigt habe, ein Zuträger der Staatssicherheit gewesen zu sein, blickte sie geradeaus auf den Verkehr, legte den Kopf leicht auf die Seite und sagte, beinahe ohne Nachdruck: »Ich habe mit diesem Mann zwanzig Jahre zusammengelebt, aber ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
Während der Fahrt erzählte ich ihr die Geschichte der jungen Frau, die in Ost-Berlin verheiratet ist, in den Westen geht und dort studiert, in den Jubelszenen nach dem Fall der Mauer ihren Ex-Mann zu erkennen glaubt, sich erst sträubt, aber dann nach Berlin fährt, um ihn zu treffen. In der Nacht vor der Abfahrt schläft sie mit einem Mann, den sie gerade kennengelernt hat und mit dem sie ihr Leben teilen möchte. Sie fährt trotzdem. »Ich weiß noch nicht, wie die Geschichte ausgeht. Sie ist eine intelligente, emanzipierte Frau und sie gerät ins Niemandsland der Gefühle. Helfen Sie mir: welchen der beiden soll sie nehmen?« Und sie, leise: »Wenn sie klug ist, nimmt sie den Wessi.« »Sie ist klug. Aber sie ist auch integer.« »Ich sagte doch: »Wenn sie klug ist, nimmt sie den Wessi.« »Aber es geht nicht gut aus.« »Nein, es geht nicht gut aus.«
Was ›der Mensch‹ ist, entscheidet sich heute an Systemgrenzen, nicht in den existenziellen Situationen, die für frühere Generationen entscheidend waren. Genauer: es entscheidet sich dort, wo Grenzen kollabieren, um in Individuen fortzubestehen und neue Grenzen hervorzubringen. So ein Austragungsort imaginärer Schlachten, die das Leben der Einzelnen bestimmen, ist das Geschlecht. »Ich leide, ich bin eine Frau. Nein, ich leide, ich bin ein Mensch«, schreibt die Protagonistin. »Gestern war alles Aufbruch, die Grenze, gerade diese, vollkommen unsichtbar, von allen Seiten, woher der Drahtverhau?« Solche Sätze kommen von vielen, nicht nur an dieser Grenze, die experimentelle Situation hat sich aus den Aufbrüchen zurückgezogen in die Niederungen des persönlichen Unglücks, in denen sich das Glück dazusein aus der Ummantelung einer verordneten Praxis schält. Nein, es geht nicht ums Unglück, um nichts in der Welt. Worum es geht? Sie wissen es nicht, aber sie bekennen es mit großer Härte.